Scheißmeister

Von Anatol Stefanowitsch

Ich habe mich bei mein­er Suche nach Beispie­len für das Wort Scheißmeis­ter im vor­ange­hen­den Beitrag in die Irre leit­en lassen. Die Hör­funkko­r­re­spon­dentin der ARD in New York hat­te in einem Beitrag über deutsche Lehn­wörter im amerikanis­chen Englisch über dieses Wort, gestützt auf das Urban Dic­tio­nary, Fol­gen­des geschrieben:

Andere [deutsche Wörter im Englis­chen] sind aber reine Erfind­ung, pseu­do­deutsche Kunst­worte: “Scheißmeis­ter” — zum Beispiel — soll in etwa “fün­ftes Rad am Wagen” heißen.

Ich hat­te solche Ver­wen­dun­gen gesucht und nicht gefun­den und deshalb ver­mutet, dass es sich bei dem Wort um die ins Urban Dic­tio­nary eingeschleuste Erfind­ung eines Spaßvo­gels han­deln kön­nte. Aber bei näherem Hin­se­hen stellt sich her­aus, dass nur die Bedeu­tung erfun­den ist — das Wort an sich gibt es, und ein pseu­do­deutsches Kunst­wort ist es nicht.

Der israelis­che His­torik­er Yitzhak Arad beschreibt die Geschichte des Wortes eindrucksvoll:

Through­out the day the pris­on­ers were under the care­ful watch of the SS, the Ukraini­ans, and the capos. Theirs was a day of per­pet­u­al work and motion, and woe to any­one who stopped to rest. Any­one who slowed down would be whipped on the spot or record­ed by the capo or the SS man in charge for “treat­ment” at the evening roll call. The only place the pris­on­ers were able to sit qui­et­ly for any amount of time with­out being watched was in the lava­to­ries. There were only a few toi­lets in the camps, but the pris­on­ers — and espe­cial­ly the weak and sick among them who con­tin­ued work­ing only out of fear that if they stopped work­ing they faced cer­tain death — found the only place for a short rest was in the lava­to­ries. In gen­er­al the Jew­ish capos were con­sid­er­ate of the sick and looked the oth­er way dur­ing their fre­quent vis­its and long stays in the lava­to­ries. Dur­ing the win­ter that the typhus epi­dem­ic spread through Tre­blin­ka, the toi­lets became the main rest area.

In Tre­blin­ka, Küt­tner began notic­ing the “exag­ger­at­ed” use of the toi­lets by the pris­on­ers and, to put a stop to it, he appoint­ed a Jew­ish super­vi­sor over every toi­let; these super­vi­sors were giv­en the title Scheiss­meis­ter (“shit mas­ter”). For their enter­tain­ment, the Ger­mans dressed the Scheiss­meis­ter in a spe­cial out­fit: the clothes of a rab­bi and an eight-cor­nered cantor’s tur­ban. He had to wear a large alarm clock around his neck and car­ry a whip. He was aiso ordered to grow a Vandyke beard. He would have to make cer­tain that the pris­on­ers did not stay in the toi­let for more than two min­utes and that there should be no more than five peo­ple in the lava­to­ry at a time. It was the duty of the Scheiss­meis­ter to chase out those who dal­lied. A pris­on­er who did not obey the Scheiss­meis­ter was reg­is­tered and his num­ber was sub­mit­ted to Küttner.

Thus the lava­to­ries, which had been the only place where the pris­on­ers had found some sem­blance of peace, turned into yet anoth­er place of hard­ship and tor­ture. [Yizhak Arad, Belzec, Sobi­bor, Tre­blin­ka. The Oper­a­tion Rein­hard Death Camps, Indi­ana Uni­ver­si­ty Press, 1987, S. 205]

Die Gefan­genen standen den ganzen Tag unter genauer Beobach­tung durch die SS, die Ukrain­er und die Kapos. Ihr Tag bestand aus unun­ter­broch­en­er Arbeit und Bewe­gung, und wehe dem, der sich auch nur einen Moment aus­ruhen wollte. Jed­er, der langsamer arbeit­ete wurde auf der Stelle aus­gepeitscht und vom Kapo oder befehlshaben­den SS-Mann für eine „Behand­lung“ während des Aben­dap­pells einge­tra­gen. Der einzige Ort, an dem die Gefan­genen einen Augen­blick lang still und unbeobachtet dasitzen kon­nten, waren die Latri­nen. Es gab nur einige wenige Toi­let­ten in den Lagern, aber die Gefan­genen — beson­ders die Kranken und Schwachen unter ihnen, die nur aus der Angst her­aus weit­er­ar­beit­eten, dass ihnen, wenn sie zu Arbeit­en aufhörten, ein sicher­er Tod erwartete — erkan­nten, dass die Latri­nen der einzige Ort für eine kurze Pause waren. Die jüdis­chen Kapos nah­men generell Rück­sicht auf die Kranken und über­sa­hen deren häu­fige und lange Aufen­thalte in den Latri­nen stillschweigend. Während des Win­ters, in dem sich in Tre­blin­ka die Typhusepi­demie aus­bre­it­ete, wur­den die Toi­let­ten zum wichtig­sten Ruheraum.

Der “über­triebene” Gebrauch der Toi­let­ten durch die Gefan­genen fiel in Tre­blin­ka [dem Lager­leit­er, SS-Hauptschar­führer Kurt] Küt­tner auf. Um diesen Gebrauch zu unterbinden, ernan­nte er einen jüdis­chen Auf­se­her für jede Toi­lette; diese Auf­se­her erhiel­ten den Titel „Scheißmeis­ter“. Zu ihrer Unter­hal­tung schrieben die Deutschen dem Scheißmeis­ter eine beson­dere Klei­dung vor: Das Gewand eines Rab­bin­ers und einen achteck­i­gen Kan­tor­tur­ban. Er musste sich einen großen Weck­er um den Hals hän­gen und eine Peitsche bei sich tra­gen. Man befahl ihm auch, sich einen Van-Dyke-Bart wach­sen zu lassen. Es war seine Auf­gabe, dafür zu sor­gen, dass die Gefan­genen sich nicht länger als zwei Minuten in der Toi­lette aufhiel­ten und dass nie mehr als fünf Leute auf ein­mal die Latrine benutzten. Der Scheißmeis­ter hat­te die Anweisung, diejeni­gen her­auszu­ja­gen, die diese Zeit über­schrit­ten. Gehorchte ein Gefan­gener nicht dem Scheißmeis­ter, wurde dies notiert und seine Num­mer wurde an Küt­tner gemeldet.

So wur­den die Latri­nen, die der einzige Ort gewe­sen waren, an dem die Gefan­genen so etwas wie Frieden gefun­den hat­ten, zu einem weit­eren Ort der Qual und Folter[eigene Übersetzung].

Die Autorin des oben erwäh­n­ten Artikels kommt angesichts der von ihr besproch­enen Lehn­wörter (die größ­ten­teils aus dem Jid­dis­chen stam­men) am Ende zu ein­er opti­mistis­chen Einschätzung:

Ist doch auch toll, dass nicht nur Wörter wie Achtung oder Angst, Blitzkrieg oder Schaden­freude über­nom­men werden.

Da hat sie sich lei­der zu früh gefreut. Es ist eben doch nicht so ein­fach, deutsche Lehn­wörter zu find­en, auf die man stolz sein kann.

6 Gedanken zu „Scheißmeister

  1. Klaus Jarchow

    In der Logik der Lager­leitung war das Vorge­hen fol­gerichtig: “Ver­nich­tung durch Arbeit” lautete das Pro­gramm, und wer sich der Arbeit ent­zog, kon­nte nicht ver­nichtet wer­den. Also wurde am Don­ner­balken gerüt­telt, bis die armen Ker­le erwün­schter­maßen in die Grube fie­len. Welche ‘Erfind­ungs­gabe’ aber steck­ten diese SS-Sadis­ten in die detail­lierte Uni­formierung ihrer ‘Scheiss­meis­ter’. Und wozu? War das bloß Gau­di und Enter­tain­ment für verkommene Seelen?

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  2. Wolfgang Hömig-Groß

    @Klaus Jar­chow: Wer solche Sachen wie KZs baut, find­et schnell Fre­unde unter den Per­versen der Welt und das Ergeb­nis kann man als halb­wegs nor­maler Men­sch nur fas­sungs­los bestaunen.

    Dieser Dreck kriecht übri­gens nicht nur im Nation­al­sozial­is­mus unter der Tep­pichkante her­vor: Mich hat die beson­dere Entwürdi­gung der Auf­se­her im KZ durch litur­gis­che Gewän­der sehr an Guan­tanamo erin­nert, wo die Auf­se­her die mus­lim­is­chen Gefan­genen zu Koran­schän­dun­gen gezwun­gen haben. Und das geschah wohl eher nicht auf direk­te Weisung von George Bush, da steckt m.E. jede Menge per­sön­lich­er Erfind­ungsre­ich­tum hin­ter — siehe auch Abu Ghraib.

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  3. nitpicker

    Wenn ich ein weltweit aus dem Deutschen entlehntes Wort nen­nen sollte, auf das man stolz sein kann, würde ich in der Regel auf “Kinder­garten” verweisen…

    Anson­sten gibt es noch so Dinge “Leit­mo­tiv” oder “Zeit­geist”, die auch zumin­d­est im Englis­chen zu find­en, aber eher wert­neu­tral sind.

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  4. Gary

    Mir ist als Amerikan­er das Wort shit­meis­ter bekan­nt, als Beze­ich­nug fuer jemand, der gut am Ueberzeu­gen ist, und dazu glaub­bare aber unwahre Argu­mente benutzt.

    Ich kann mir gut vorstellen dass jemand kon­se­quenter­weise den ersten Teil verdeutscht hat, aus Wortspielerei.

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  5. Adele Bongartz

    Scheiß(e)-”

    - Wer die Orthogra­phie im Grimm­schen Wörter­buch beherrscht, find­et viele Lex­eme, aber nicht das Nomen „Scheiszmeis­ter“.:

    SCHEISZ, m.

    und:

    SCHEISZANGST, f. — SCHEISZBANGE, adj. — SCHEISZBANN, m. — SCHEISZBECKEN, n. — SCHEISZBEERE, f. — SCHEISZBISCHOF, m. — SCHEISZBOCK, m. – SCHEISZBRÄMER, m. — SCHEISZBRIEF, m. — SCHEISZBUTTE, f. — SCHEISZDARM, m. — SCHEISZDRECK, m. — SCHEISZE, f. — SCHEISZEL, m. — SCHEISZELN, v. — SCHEISZEN, v. — SCHEISZER, m. — SCHEISZEREI, f. — SCHEISZERIG, adj. — SCHEISZERISCH, adj. — SCHEISZERN, v. 

    SCHEISZFALK, m. — SCHEISZFIDEL, adj. — SCHEISZFREUNDLICH, adj. — SCHEISZGANG, m. — SCHEISZGASSE, f. — SCHEISZGELB, adj. — SCHEISZGELTE, f. — SCHEISZGRABEN, m. — SCHEISZGUT, n. — SCHEISZHAFEN, m. — SCHEISZHAFT, adj. — SCHEISZHAUFE, m. — SCHEISZHAUS, n. — SCHEISZHÄUSCHEN, n. — SCHEISZHAUSFEGEN, n. — SCHEISZHAUSFEGER, m. — SCHEISZHAUSFÜLLER, m. — SCHEISZHAUSRÄUMERSCHEISZHUND, m. — SCHEISZICHT, adj. — SCHEISZIG, adj. — SCHEISZKACHEL, m. – SCHEISZKÄFER, m. — SCHEISZKAMMER, f. — SCHEISZKARRE, f. — SCHEISZKERL, m. — SCHEISZKÖRNER , plur. — SCHEISZKRAM, m. — SCHEISZKRAUT, n. — SCHEISZKRÖTE, f. — SCHEISZKÜBEL, m. — SCHEISZLING, m. — SCHEISZLORBEER, m. — SCHEISZLUST, f. — SCHEISZMANGEL, m. — SCHEISZMATZ, m. — SCHEISZMELDE, f. — SCHEISZNÖTHIG, adj. — SCHEISZPFAFFE, m. — SCHEISZPFLAUME, f. — SCHEISZREIHER, m. — SCHEISZRÜBE, f. — SCHEISZSACHEN, plur. — SCHEISZSTUHL, m. — SCHEISZSTÜHLCHEN, n. ‑SCHEISZTAG, m. — SCHEISZTEUFELPROCESSION, f. — SCHEISZUNG, f. — SCHEISZWINKEL, m. — SCHEISZWURZ, f.

    URL.:

    http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbuecher/dwb/wbgui?lemmode=lemmasearch&mode=hierarchy&textsize=600&onlist=&word=Scheisz&lemid=GS06421&query_start=1&totalhits=0&textword=&locpattern=&textpattern=&lemmapattern=&verspattern=#GS06421L0

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