Schlagwort-Archive: Anglizismus des Jahres 2011

[AdJ 2011] Der Kreisläufer: circlen

Von Susanne Flach

Für diesen Kan­di­dat­en eigne ich mich vielle­icht ganz gut: Ich habe zwar ein Kon­to bei Google+, weil ich nach aus­bleiben­den Ein­ladun­gen ganz stolz war, dass ich mich selb­st anmelden kon­nte. Ich bin aber in keinem seine oder ihre Kreise, habe noch nie­man­den eingekreist (haka!) und nutze Google+ nur dann zur kurzfristi­gen Egopflege, wenn ein Link auf meine Seite geht. Ich bin also irgend­wie unvor­ein­genom­men, was cir­clen ange­ht — in die eine, wie in die andere Rich­tung. Dafür müssen Sie mir im Umkehrschluss die eine oder andere Unge­nauigkeit zu tech­nis­chen Funk­tio­nen bei Google+ nach­se­hen, ja?

Die Nominierung für cir­clen kommt von Hannes:

Ich schlage “cir­clen” vor. Es umschreibt das “einkreisen” ein­er Per­son in einen virtuellen Per­so­n­enkreis auf Google+ – http://www.plus.google.com. Damit rei­ht es sich her­vor­ra­gend in die bere­its seit Jahren übliche Ver­wen­dung von anglo-amerikanis­chen Web2.0‑Begriffen, wie z.B. “liken” oder “sharen”.

(ver­wen­det in vie­len Blogs und Beiträ­gen in und um G+, z.B. hier.)

impala sieht die Nominierung skep­tisch und meint:

cir­clen habe ich noch nie gehört und ich habe sog­ar einen Account bei google+. Eine kurze Google-Recherche bestätigt meinen Ver­dacht, dass das Wort so gut wie nicht gebraucht wird.

Dass alle Nominierun­gen mehr oder weniger vom Risiko des “kenn ich nicht!” bedro­ht sind, liegt in der Natur der Sache, den Nominierungskri­te­rien und ein­er gewis­sen nicht-gese­henen Sub­jek­tiv­ität. So antwortet Jan dementsprechend:

Ich benutze das Wort cir­clen und lese es auch häufig.

Das inspiri­erte impala wiederum zu ein­er Suche:

Wenn Sie via Google auf deutschen Web­seit­en nach dem Wort cir­clen suchen, erhal­ten Sie unge­fähr 5.120 Ergeb­nisse, wovon einige auch Dateina­men wie “cir­cleN” sind. Die tat­säch­liche Zahl ist also niedriger. Natür­lich schließt diese Suche Flex­ions­for­men des Wortes aus, aber selb­st wenn man nach diesen sucht und sie mit leak­en oder liken ver­gle­icht, wird deut­lich, dass das Wort kaum Ein­gang in den all­ge­meinen Sprachge­brauch gefun­den hat:

leak­en: ca. 99.000
liken: ca. 1.350.000 (hier sind allerd­ings viele Wörter­buchein­träge mit­gezählt sowie Eigen­na­men etc.)
cir­clen: ca. 5.120

geleakt (oder in Mischorthogra­phie geleaked): 458.000 (354.000)
gelikt (oder in Mischorthogra­phie geliked): 6.550 (109.000)
gecircelt (oder gecir­clet oder gecir­cled): 1.170 (320; 494)

Die Zahlen sprechen glaube ich für sich.

Tun sie das?

Nein. Aber begin­nen wir am Anfang.

Das Wort

cir­clen im Deutschen ist ein Lehn­verb und eine Ein­bürgerung von to cir­cle auf Google+-Basis. Es beze­ich­net in diesem Net­zw­erk das Hinzufü­gen ein­er anderen Per­son zu den eige­nen “Kreisen” (engl. cir­cles), welche man the­ma­tisch, also etwa nach Fre­un­den, Geschäftspart­nern, Kol­le­gen oder wie auch immer anord­nen kann. Im Unter­schied zu Face­book muss dieses Hinzufü­gen nicht auf Gegen­seit­igkeit beruhen (Face­book ver­fol­gt sei­ther ja eine ähn­liche Strate­gie mit ein­er Time­line-ähn­lichen Funk­tion, sub­scribe). Dann kann man seine Inhalte nur für bes­timmte Kreise sicht­bar machen. Fast wie im echt­en Leben, also wenn man an so Sprüche denke wie in gewis­sen Kreisen spricht man schon über

Circeln (v.) ist also eine Deriva­tion von Cir­cles (n.) — im Englis­chen war’s eine Kon­ver­sion: cir­cle > to cir­cle. Wo kommt’s her? Das hab ich mich natür­lich gefragt — und hab mal wieder beim OED vor­beige­se­hen, weil ich wis­sen wollte, ob die Bedeu­tung von “in gewis­sen Kreisen” auch im Englis­chen von cir­cle (n.) abgedeckt ist. Das kön­nte hier aber ähn­lich unüber­sichtlich wer­den, wie bei mas­ter. Offen­bar eignet sich die Kreis-Meta­pher für sehr, sehr viel ver­sprach­lich­bare Wahrnehmung. Um die Geschichte abzukürzen — ja, tut es:

21.a.
A num­ber of per­sons unit­ed by acquain­tance, com­mon sen­ti­ments, inter­ests, etc.; a ‘set’ or coterie; a class or divi­sion of soci­ety, con­sist­ing of per­sons who asso­ciate together.

[Eine Gruppe von Per­so­n­en, die durch Bekan­ntschaft, gemein­same Ansicht­en, Inter­essen etc. ver­bun­den ist, ‘[Kreise]’ oder Seilschaften, eine gesellschaftliche Klasse oder Ein­heit, die zusam­men gehört.]

Der Ursprung wird hier sowohl mit ger­man­isch angegeben, von cir­cul (Altenglisch, Astronomie), als auch mit lateinisch-roman­isch, cir­cu­lus (lat.) und cer­cle (fr.). Bei uns gibt es das Kog­nat als zirk­il schon im Althochdeutschen im 9. Jahrhun­dert als Instru­ment fürs Kreis­malen. Die Bedeu­tung des Per­so­n­enkreis­es war im 18. Jahrhun­dert bei uns gar ein Gal­lizis­mus (für alles: Ety­molo­gieein­trag im DWDS, Zirkel, nach Pfeifer):

Die Bedeu­tung ‘zu Gesel­ligkeit oder zur Wahrnehmung gemein­samer Inter­essen sich ver­sam­mel­nde Men­schen­gruppe’ (1. Hälfte 18. Jh.) ste­ht unter dem Ein­fluß von frz. cer­cle ‘in einem Salon ver­sam­melte Per­so­n­en, Klub, Vere­ini­gung Gle­ich­gesin­nter’ (zunächst ‘um den König oder die Köni­gin ver­sam­melter Kreis von Ver­traut­en’, aus lat. cir­cu­lus im Sinne von ‘Per­so­n­enkreis, Gruppe’), das selb­st Ende des 18. Jhs. in der Form Cer­cle über­nom­men und zeitweilig (bis ins 19. Jh.) neben Zirkel gebraucht wird. Dieses lebt in neuester Zeit vor allem als ‘Kreis von Ler­nen­den, Lehrgang, Kur­sus’ (19. Jh.) weiter.

Aus­gang dieser Über­legun­gen und des Exkurs­es war näm­lich die Tat­sache, dass ich Cir­cel in genau dieser Schreib­weise und in der Bedeu­tung ‘gesellschaftlich­er Kreise’ im Zeitungsko­r­pus (bei Cos­mas II) aus dem Jahr 1996 fand, als ich nach circ*suchte:

Tat­säch­lich fand die UNO-Men­schen­rechts­beauf­tragte für Bosnien, die frühere finnis­che Vertei­di­gungsmin­is­terin Elis­a­beth Rehn, gestern in Wiener Circeln auf­fal­l­end mod­er­ate Vertei­di­gungsworte für die Ser­ben[.] (Oberöster­re­ichis­che Nachricht­en, X96/JUL.12685)

Aber jet­zt scheint man in gewis­sen Circeln unseres Außen­min­is­teri­ums so arro­gant zu sein, daß man die Tirol­er Lan­despoli­tik, die bish­er let­ztlich, zumin­d­est was Südtirol bet­rifft, mit der Außen­poli­tik des Bun­des übere­in­stimmte, ver­höh­nen darf, indem man ein­fach auf die Schutz­macht­funk­tion unser­er Repub­lik für Südtirol verzichtet (oder vergißt?). (Die Presse, P96/MAR.12830)

Ins­ge­samt gibt es drei Belege aus den Oberöster­re­ichis­chen Nachricht­en und den einen aus Die Presse, was mich zu der Annahme ver­leit­ete, es han­dele sich um einen Aus­tri­azis­mus, aber ver­mut­lich nur in der Schreib­weise. Belege aus der deutschen Presse sind zahlre­ich, nur eben mit Zirkel(n), ein Beleg soll mal genü­gen (z.B. aus dem Kernko­r­pus, DWDS):

Das ius san­gui­nis, das Abstam­mung­sprinzip, war kein Code­wort elitär­er Zirkel, es offen­barte sich langfristig auch in (fast) jed­er Zeitung. (27.09.1996, Die Zeit)

So, jet­zt sind wir beim Verb. Da ist es natür­lich etwas kom­pliziert­er — das ‘direk­te’ Kog­nat von to cir­cle, zirkeln beschränkt sich über­wiegend auf:

zirkeln Vb. ‘mit dem Zirkel zeich­nen, abmessen’ (älter auch ‘kreisen, sich drehen’), über­tra­gen ‘mit Sorgfalt und Genauigkeit abmessen, entwer­fen, ausar­beit­en’, mhd. zirkeln ‘mit dem Zirkel messen, nach dem Zirkel­maß ver­fer­ti­gen’ (spätmhd. auch ‘als Wache die Runde machen’);  (DWDS, Zirkel)

Man ken­nt zirkeln ja noch aus dem Fußball­sprech: Er zirkelt den Freis­toß um die Mauer, in sowas wie gezirkelte Spitzfind­igkeit­en (DWDS) oder vom Zirkel­train­ing (als Nomen). Die direk­te Verbindung zu (ein)kreisen, dem ‘erweit­erten’ Kog­nat von to (en)circle, ist es also nicht. Oder anders: wir dif­feren­zieren an dieser Stelle. Aber die ganze seman­tis­che Verbindung ist natür­lich gegeben mit diesen ganzen Kreisen überall.

Wem noch nicht schwindlig ist: cir­clen kommt zu uns und bringt also prak­tis­chw­er­weise Dif­feren­zierungspo­ten­tial mit. Anders als bei den meis­ten bish­eri­gen Kan­di­dat­en, die hier bei mir disku­tiert wur­den, eignet sich circeln her­vor­a­gend dazu, das abzudeck­en, was wed­er die Kog­nate kreisen, einkreisen und schon gar nicht zirkeln leis­ten kön­nen. Zwar kam auch erst mit Google+ das Konzept von “meinen Kreisen im Netz” wirk­lich definiert und tech­nisch konzen­tri­ert auf den Bild­schirm oder war vorher je nach Net­zw­erk mit adden oder frien­den dem Net­zw­erk entsprechend gut abgedeckt — aber ich würde mal sagen: Kri­teri­um erfüllt. Und anders als Kristin für adden fest­gestellt hat (“hat 2011 nichts Beson­deres geleis­tet”), hat cir­clen ein­fach die Gnade der 2011er-Geburt.

Die Aktualität

Google+ startete im Juni 2011. Ende der Durchsage.

Die Verbreitung und Integration

So, zum Schluss kom­men wir zum Kri­tikpunkt der man­gel­nden Ver­bre­itung zurück, den AdJ-Leser/-in impala geäußert hat­te: Das Wort sei zu sel­ten. Ich denke, hier müssen wir aber cir­clen gegenüber fair bleiben.

Die nak­ten Zahlen, die impala anführt, sagen näm­lich lediglich erst­mal, dass leak­en bzw. Wik­ileaks — obäch­tle! — weit­ere Kreise gezo­gen hat und leak­en natür­lich viel all­ge­mein­er auf mehrere Kon­texte anwend­bar ist. Außer­dem sollte man nicht vergessen, dass cir­clen bish­er nur ein halbes Jahr Zeit hat­te, sich zu etablieren — wenn man dann noch die Suchan­frage für leak­en und seine flek­tierten For­men auf 2010 beschränkt, wer­den auch dort die Ergeb­niszahlen geringer. Natür­lich ist es richtig, dass gecir­clet/-d nicht auf ähn­liche Zahlen kom­men kann, wie leak­en. Das hat auch noch einen Anwen­dungs­grund: Bei Wik­ileaks ging es näm­lich um das Leak­en an sich, bei Google+ aber nicht ums cir­clen, son­dern mehr um die Poten­tiale des neuen Netzwerks.

Trotz dieser Über­legun­gen: die Zahlen sind gar nicht so mau, wie impala sie gefun­den hat. Er/sie schreibt, dass die Tre­f­fer “auf deutschen Web­seit­en” gefun­den wur­den, ver­mut­lich mit der Anfrage site:de. Das ist aber wom­öglich der falsche Ansatz. Unter der Annahme, dass gecircelt/gecirclet/gecirceld/gecircled mor­phol­o­gisch durch das Par­tizip Prä­fix ge- recht zuver­läs­sig auf eine deutschsprachige Tex­tumge­bung hin­weist, weit­en wir die Suche auf alles von Google aus. Und siehe da: Allein auf der ersten Ergeb­nis­seite kamen bei drei Stich­proben in ver­schiede­nen Schreib­weisen etwa 8 von 10 Tre­f­fern von anderen Toplevel­do­mains (.fm, .com), davon meist gut die Hälfte direkt aus Google+ selb­st (.com).

Die Nieder­län­der kom­men uns mit ein­er ähn­lichen Mor­pholo­gie in die Quere (stich­probe­nar­tig über­prüft für eine .nl-Suche z.B. 4 Tre­f­fer für gecircelt und 39 für gecir­cled). Das ist natür­lich die Apfel-Bir­nen-Saga, zeigt uns aber, dass nieder­ländis­che Tre­f­fer nicht aus­re­ichend aus den .com-Tre­f­fern raus­ge­filtert wer­den kön­nen. Aber für einen Ein­blick in die Häu­figkeit und Ver­bre­itung von cir­clen muss es halt schlicht reichen (Trust Google search­es with a pinch of salt). Eine all­ge­meine Anfrage und eine mit den flek­tierten For­men löst übri­gens auch das Prob­lem der Grafik­endung cirleN, das zumin­d­est so häu­fig oder beliebt zu sein scheint, dass sie schon die ersten Tre­f­fer­seit­en verdünnt.

So kom­men wir auf fol­gende Näherungswerte (Gesamt-Google, gesamter Zeitraum):

  • gecircelt: 9,030
  • gecir­cled: 4,890
  • gecirceld: 1,130
  • gecir­clet: 400

Näherungsergeb­nisse für circlen/circeln (hier aber site:de, 28.06.–31.12.2011):

  • cir­clen: 15,300
  • circeln: 61

Hier sind wie immer die absoluten Zahlen nicht so entschei­dend, son­dern die Ver­hält­nisse zwis­chen den Vari­anten. Und da zeigt sich mein­er Mei­n­ung nach enorm Erstaunlich­es: der Infini­tiv ist orthografisch ein­deutig die englis­che Vari­ante cir­clen. Beim Par­tizip kristallisieren sich bei vier möglichen zwei mehr oder weniger konkur­ren­zfreudi­ge Alter­na­tiv­en her­aus: gecircelt und gecir­cled. Dabei ist gecircelt gle­ich dop­pelt einge­bürg­ert (-el und -t), gecir­cled behält die nativ-englis­che Schrei­bung für -le und das englis­che Par­tizip­mor­phem -d. Also: Inte­gra­tion ganz oder gar nicht! Derzeit liegt hier die deutsche Orthografie vorn, die sich ver­mut­lich auch noch weit­er etablieren wird. Was im Ver­gle­ich dazu aber erstaunlich ist, ist die deut­liche Präferenz für den orthografis­chen englis­chen Infini­tiv. Will sich jemand an ein­er Erk­lärung versuchen?

(Das Prob­lem ist aber all­ge­mein, dass bei den Par­tizip­i­en für den Zeitraum seit der Grün­dung von Google+ bis Jahre­sende z.B. für gecircelt gar keine Ergeb­nisse aufge­wor­fen wer­den (?!?), mir unerk­lär­lich. Man darf also die Infini­tiv-Gruppe nicht mit der Par­tizip-Gruppe ver­gle­ichen, da sie sich auf andere Zeiträume beziehen und mit unter­schiedlichen Ein­schränkun­gen auf Toplevel­do­mains gefun­den wur­den. Ver­gle­iche sind also nur inner­halb der Grup­pen “möglich”. Für den Rest ver­ste­he ich Google­suchen manch­mal eh nicht.)

Fazit

Ist aus­sicht­sre­ich dabei, defin­i­tiv. Auch wenn ich Google+ bish­er fast nur von But­tons auf Seit­en kenne. Ich finde die Re-Re-Inte­gra­tion der ent­fer­n­ten und ent­fremde­ten Ver­wandtschaft ohne­hin faszinierend (die Kog­natskreisläufe sind so toll!). Zwar ist cir­clen ver­mut­lich solange auf Google+-Kontexte beschränkt, wie nur Google+ mit solchen Kreisen operiert. Aber ich finde die Möglichkeit der Abbil­dung des gesellschaftlichen Kon­struk­ts der Kreise auf die Onlinewelt faszinierend, auch sprach­lich — und sie hat Poten­tial. Mit cir­clen haben wir dafür also ein Wort über­nom­men, was ganz aus­geze­ich­net dif­feren­ziert — denn mal ehrlich: Wür­den Sie Ihre Fre­unde wirk­lich einkreisen wollen?

[AdJ 2011] Content farmen auf Contentfarmen

Von Susanne Flach

Die Nominierung von Con­tent­farm ging von Leserin Simone ein:

Ich möchte “Con­tent­farm” nominieren.

Nomin­ertes Wort: Con­tent­farm (auch Con­tent-Farm oder Con­tent Farm)
Beleg: z.B. http://www.zeit.de/digital/internet/2011–03/google-algorithmus
Begrün­dung: Das Wort ist mir in diesem Jahr ersten Mal aufge­fall­en Ich habe auch einige ältere Beispiele gefun­den, aber ich meine, häu­figer ist es erst durch die Berichte über den Verkauf von Huff­in­g­ton Post an AOL und durch Googles neuen Algo­rith­mus gewor­den. Es ist ein Wort, das den schwinden­den Stel­len­wert von Tex­ten und Kreativ­ität im Inter­net deut­lich macht.

Nun denn.

Das Wort

Con­tent­farm (auch in der Schrei­bung Con­tent Farm oder Con­tent-Farm, wie Simone bere­its ange­merkt hat), ist ein hunds­gewöhn­lich­es Kom­posi­tum mit metapho­rischem Gus­to — der Kopf, farm, beze­ich­net im pro­to­typ­is­chen Sinn einen land­wirtschaftlichen Pro­duk­tions­be­trieb, stre­it­bar­erweise ist damit meist ein­er außer­halb Deutsch­lands gemeint. (das leg­en die ersten 50 Tre­f­fer ein­er schnellen KWIC*-Suche im DWDS nahe). Der Mod­i­fika­tor Con­tent wird vom Duden so definiert: “qual­i­fiziert­er Inhalt, Infor­ma­tion­s­ge­halt beson­ders von Websites”.

Also davon abge­se­hen, dass mir nicht völ­lig klar ist, was der Duden mit “qual­i­fiziertem Inhalt” meint, beze­ich­net Con­tent also recht bre­it den Inhalt im dig­i­tal­en Raum mit einem Fokus auf Infor­ma­tion, also weniger soziale Kom­mu­nika­tion in Foren oder Net­zw­erken. Für einen so all­ge­mein genutzten Begriff wie Con­tent hat der Duden mit sechs Wörtern aber ganz gute Arbeit geleis­tet. Dort, wo solche Infor­ma­tion­sin­halte wie am Fließband pro­duziert wer­den, haben wir eine Con­tent­farm: eine Beze­ich­nung für Web­di­en­ste, die in beson­derem Maße Inhalt zur Ver­fü­gung stellen (also, hm, ‘anbauen’ im über­tra­ge­nen Sinne). Die Frage wäre jet­zt nur, welche Art Inhalt da pro­duziert wird: Denn nicht jede Seite, jede Zeitung oder jedes Infor­ma­tion­sportal ist eine Con­tent­farm.

Nun ist es richtig, dass Inhalts­bauern­hof irgend­wie schon reich­lich daneben liegen würde — weil Con­tent im deutschen Web-Jar­gon längst angekom­men ist (ste­ht ja schon im Duden). Als Con­tent­farm wer­den beson­ders die Ange­bote beze­ich­net, die zur Gener­ierung von Seit­e­naufrufen rel­a­tiv gehalt­lose Texte pro­duzieren, die beson­ders viele Schlag­wörter zu einem The­ma enthal­ten. Das ist grund­sät­zlich ein gängiges Vorge­hen, um die eige­nen kom­merziellen Webange­bote in Such­maschi­nen bess­er zu platzieren. Es soll Nutzer/-innen schneller zur gewün­schen Infor­ma­tion führen. Das nen­nt sich SEO (Search Engine Opti­miza­tion). Con­tent­far­men gehen aber einen Schritt weit­er und pro­duzieren in schnell­ster Abfolge und ohne wirk­lichen Gehalt bil­lige Texte, um Klicks zu gener­ieren, die wiederum auf passend einge­fügte Wer­bung führen soll. Alter­na­tiv gibt es auch den Aus­druck Con­tent­mill (Con­tentmüh­le), der die Meta­pher mit der schnellen Pro­duk­tion noch verstärkt.

So gese­hen hat Con­tent in Con­tent­farm sog­ar eine leicht euphemistis­che Note.

Mir ist bei der Recherche näm­lich schnell aufge­fall­en, dass Con­tent­farm — obwohl recht neu­tral definiert — offen­bar eine ordentlich neg­a­tive Kon­no­ta­tion aufweist:

eine kleine Richtig­stel­lung: content.de ist keine Con­tent­farm. Wir stellen wed­er eige­nen Con­tent ins Netz noch beauf­tra­gen wir sel­ber Con­tent um diesen dann Paketweise an “Con­tent­farmer” zu verkaufen. Der an andere Stelle auch schon gehörte Ver­gle­ich mit Demand Media & Co. passt dem­nach nicht, da unser Geschäftsmod­ell grundle­gend anders funk­tion­iert. [Link]

Als „Con­tent-Farm“ wird eine Seite beze­ich­net, die die Funk­tion hat, durch eine große Anzahl qual­i­ta­tiv min­der­w­er­tiger und inhaltlich anspruch­slos­er Texte möglichst viel Such­maschi­nen­traf­fic abzu­greifen. [Link]

Mehr Profikiller braucht das Land – Die schmud­delige Real­ität der Con­tent-Far­men. [Link]

Eine Kol­loka­tion­s­analyse würde ver­mut­lich sehr schnell ans Licht brin­gen, dass Con­tent­farm im Sprachge­brauch über­wiegend mit neg­a­tiv-kon­notierten Adjek­tiv­en und in wenig schme­ichel­haften Kon­tex­ten auf­taucht: schmud­delig, Trash, min­der­w­er­tig, anspruch­s­los, ober­fläch­lich, schlecht recher­chiert oder “wir wollen nicht mit dem Schwarzen Schaf (Branchen­primus) ver­glichen wer­den, wir sind anders” (s.o.). Eine solche Analyse ist natür­lich nur ober­fläch­lich recherchiert.

Wer Zweifel daran hat, dass es sich tat­säch­lich um wenig gehaltvolle Texte han­delt, darf sich hier dern das WTF des Tages abholen: wie man ein Geschenk ein­packt, Sprüche zum XX. Geburt­stag, ‘Ideen für die Geburt­stagspar­ty ein­er 13jährigen im Jan­u­ar’ oder Wie schreibt man einen roman­tis­chen Liebes­brief?. Aus der taz ist über­liefert, dass ein Anbi­eter auch das große und lange sehr gut gehütete Geheim­nis ver­rät, wie man sein Alter aus­rech­nen kann, wenn man sein Geburt­s­jahr und einen Taschen­rech­n­er parat hat.

Wir sehen, worauf es hin­aus­läuft: In den Tex­ten sind die Schlag­wörter in so schmerzhaft großer Dosierung und unge­lenken Kom­bi­na­tio­nen unterge­bracht, dass einem fast schlecht wird und man nicht glauben möchte, dass das jemand liest oder lesen muss. Man kön­nte natür­lich tol­er­ant anmerken, dass es sich in hier um Tipps und eine Art Lebens­ber­atung (Jaha!) han­delt und es dur­chaus Men­schen geben kön­nte, die damit was anfan­gen kön­nen. Aber ich glaube, die Dinger richt­en mehr Schaden an, fürchte ich (wenn es um rechtlich rel­e­vante The­men geht). Just my two cents, sub­jek­tiv gesprochen.

Simone hat in ihrer Nominierungs­be­grün­dung den Nagel schon ganz gut getrof­fen, vielle­icht nicht voll. Von Con­tent­far­men zu sprechen stellt eigentlich nicht den Stel­len­wert von Tex­ten und Kreativ­ität im Netz per se in Frage — die Kol­loka­tio­nen und Diskus­sio­nen bele­gen, dass da sehr strikt dif­feren­ziert wird. Mit Con­tent­farm wer­den ja erst genau die speziellen Trash­texte beze­ich­net, die es vorher in der Masse und Gehalt­losigkeit sel­tener gab (zumin­d­est nicht mit einem ein­deutig kom­merziellen Inter­esse) — so ist es im Grunde keine beson­ders nenneswerte Beze­ich­nung für etwas, was wir vorher umständlich umschreiben mussten (ein Teilkri­teri­um für die Wahl). Dies kön­nte sich in Zukun­ft natür­lich ändern, wobei ich an dieser Prog­nose kri­tisieren würde, dass der Kom­posi­tumkopf Farm hier die Gen­er­al­isierung und Über­tra­gung auf generelle Trash­in­halte block­ieren kön­nte. Diese Block­ade kön­nte von Con­tent­mill eher geris­sen wer­den. Was Con­tent­farm aber zweifel­s­los mib­ringt ist eine euphemistis­che Bedeu­tungsver­schiebung von Con­tent. Wom­it ich natür­lich alle Nicht-Con­tent­farm-Inhalte automa­tisch für beson­ders gehaltvoll hal­ten würde. Sei’s drum.

Die Aktualität

Keine Frage, es liegt wohl an der Anküngi­gung von Google aus dem Jan­u­ar 2011, Con­tent­far­men ent­ge­gen zu wirken (Google selb­st beze­ich­net es als Such­maschi­nenspam). So find­et man im Jan­u­ar, Feb­ru­ar und nochmal im August vere­inzelt Medi­en­berichte darüber (die taz nen­nt Con­tent­far­men in ihrem Artikel übri­gens Inhal­te­farm). Die Aktu­al­ität liegt natür­lich auch in der Zunahme von Con­tent im Inter­net und der gestiege­nen Bedeu­tung von Such­maschi­nen­rank­ings. So als Über­legung. Mehr dazu auch in der Diskus­sion um…

Die Verbreitung

Deut­lich zu wenig für einen ern­sthaften Anwärter auf den Anglizis­mus des Jahres. Im DeReKo find­et sich das Wort gar nicht, egal in welch­er Schreib­weise (Con­tent allein: über 1000 Tre­f­fer). Bei GoogleIn­sights ist auch nur ein ungewöhn­lich­er Auss­chlag im Feb­ru­ar 2011 zu verze­ich­nen (zwei Tre­f­fer), anson­sten bleibt die Liste leer, da zu wenige Anfra­gen verze­ich­net wer­den. Bei Google­News wird man 2011 mit 2 Tre­f­fern für con­tent­farm und mit ins­ge­samt 5 für con­tent farm/con­tent-farm fündig. Das ist gegenüber 2012 ein Anstieg von 2 bzw. 4 Tre­f­fern. Irgend­wie steil nach oben, aber irgend­wie auch, äh, von gaa­haaanz unten. Ergo: das reicht derzeit lei­der nur für eine Dis­qual­i­fika­tion, zumin­d­est für die Wahl 2011.

[Achtung! Im Laufe der let­zten Tage hat sich offen­bar irgend­was in der Such­maschi­nen­welt ver­schoben — die Google­News-Suche, die ich im let­zten Absatz disku­tiere, ist nicht mehr repro­duzi­er- bzw. rekon­stru­ier­bar. Das ändert aber doch recht wenig an meinem Ein­druck, dass es sich um eine sehr geringe Ver­bre­itung im all­ge­meinen Sprachge­brauch handelt.]

Der Voll­ständigkeit hal­ber: Sucht man nach con­tent­farm im nor­malen Google, wer­den über Zehn­tausend Tre­f­fer angezeigt — und die ersten ver­weisen direkt, ähm, auf Con­tent­far­men. In Extrem­fällen führen sie auf Con­tent­far­men mit Medi­en­bericht­en über Con­ten­far­men. Das ist mir echt zu zirkulär jetzt.

Fazit

Der Ansatz der Nominierung ist nachvol­lziehbar — und die seman­tis­che Analyse hat gezeigt, dass es dur­chaus um eine sin­nvolle Beze­ich­nung für Trash­texte han­deln kön­nte, bis hin zum Euphemis­mussta­tus und ein­er Kor­rumpierung des neu­traleren Begriffs Con­tent. Es deckt aber anderen Trash auf nor­malen Seit­en nicht ab. Ich bin deshalb — alles in allem — der Mei­n­ung, dass Con­tent­farm nicht zum Anglizis­mus des Jahres taugt. Die guten Argu­mente fall­en unter Netz- bzw. Gesellschaft­skri­tik und wären vielle­icht was für die Leute von neusprech.org. Zudem konzen­tri­ert sich die Diskus­sion um Con­tent­far­men auf zwei, drei große Anbi­eter und ist mir nicht all­ge­mein genug, um sich schlussendlich zu qual­i­fizieren. Zuguter­let­zt finde ich entschei­dend, dass es im all­ge­meinen Sprachge­brauch (noch) zu wenig ver­bre­it­et ist.

Dis­claimer: Ich habe als Freiberu­flerin selb­st SEO-Texte ver­fasst. 40.000 Wörter über ein Pro­dukt eines echt­en Pro­duk­tan­bi­eters, der nur dieses eine Pro­dukt anbi­etet. N Spaß ist das nie. Die Arbeit an diesen Tex­ten führt eben­so zielführend zu Gehirn­matsch, wie das Lesen der­sel­ben. Pro­jek­t­man­agerin: “Ich hoffe, du wohnst im Erdgeschoss.” Ich war [naja!] und brauchte das Geld.

*KWIC=Key­word in Con­text. Ein Begriff aus der Kor­puslin­guis­tik. Der Tre­f­fer wird in sein­er kon­textuellen Umge­bung aus­ge­wor­fen. Auf jeden Fall im ganzen Satz, oft aber auch mit mehreren Sätzen davor und danach.

[AdJ 2011] Das neue Mem: Meme.

Von Susanne Flach

Als die Nominierung Meme von Karo­line abgegeben wurde, war ich über­rascht: Denn eigentlich hielt ich es für die Plu­ral­form von Mem, einem längst inte­gri­erten Fachter­mi­nus, dementsprechend mit deutsch­er Aussprache [me:mə], mir war nicht klar, dass es eigentlich und ver­mut­lich einen, äh, pho­nol­o­gis­chen Anglizis­mus [mi:m] gibt. Ich krieche zu Kreuze! Ich lese wenn über­haupt nur von Meme, höre es sel­tenst, ja? (Die Plu­ral­form von Mem kön­nte auch die fol­gen­den Ver­suche zur Häu­figkeitssuche bee­in­flusst und erschw­ert haben.) Bei­de Wörter beze­ich­nen im Englis­chen und Deutschen jew­eils die gle­ichen Ideen und sind natür­lich konzep­tionell miteinan­der verwandt.

Wir haben hier — vor­weggenom­men — zwei Sta­di­en zu betra­cht­en: Die Über­nahme von Mem vor 30 Jahren (mit mor­phol­o­gis­ch­er und pho­nol­o­gis­ch­er Inte­gra­tion) und der zweite Import mit ander­er Bedeu­tung (offen­bar) noch ohne die voll­ständi­ge Inte­gra­tion eben erst jet­zt. Ich halte die Nominierung deshalb auf der Basis des zweit­en Imports für zulässig.

Ursprung

Die Intu­ition, dass Mem längst einge­bürg­ert ist, geht auf die “Ursprungs­be­deu­tung” von Mem zurück, die mir bekan­nt und präsent war: Richard Dawkins entwick­elte in Analo­gie zu Genen das Mem-Mod­ell, das wir auch in Deutsch­land bere­its vor Jahrzehn­ten über­nom­men haben. Hier beze­ich­net ein Mem einen kul­turellen Rep­lika­tor aus den Bere­ichen Ver­hal­ten, Sprache, Mode, Kul­tur — schlicht alles, was in kul­tureller Trans­mis­sion durch Imi­ta­tion weit­erg­ere­icht (oder aus­geson­dert) wird und so im Mem-Pool über­lebt oder eben nicht. Richard Dawkins schreib dazu 1976 (hier in der Fas­sung von 1989):

The new soup is the soup of human cul­ture. We need a name for the new repli­ca­tor, a noun that con­veys the idea of a unit of cul­tur­al trans­mis­sion, or a unit of imi­ta­tion. ‘Mimeme’ comes from a suit­able Greek root, but I want a mono­syl­la­ble that sounds a bit like ‘gene’. I hope my clas­si­cist friends will for­give me if I abbre­vi­ate mimeme to meme* If it is any con­so­la­tion, it could alter­na­tive­ly be thought of as being relat­ed to ‘mem­o­ry’, or to the French word même. It should be pro­nounced to rhyme with ‘cream’.

Exam­ples of memes are tunes, ideas, catch-phras­es, clothes fash­ions, ways of mak­ing pots or of build­ing arch­es. Just as genes prop­a­gate them­selves in the gene pool by leap­ing from body to body via sperms or eggs, so memes prop­a­gate them­selves in the meme pool by leap­ing from brain to brain via a process which, in the broad sense, can be called imitation.

Dawkins (1989: 192)

Entwicklung und Entlehnung

In dieser Beze­ich­nung ist Mem bei uns natür­lich längst etabliert. Aber darum ging es Karo­line in der Nominierung ja nicht. Um dahinzuge­lan­gen, gehen wir über die Entwick­lung im Englis­chen: Nun ist dort also Fol­gen­des passiert: mit engl. meme1, das viel all­ge­mein­er die Rep­lika­tion eines kul­turellen Konzepts bzw. kul­tureller Infor­ma­tio­nen beze­ich­net, wer­den in der Inter­net­gen­er­a­tion auch die Konzepte beze­ich­net, das auf den Prinzip­i­en der Mem- bzw. Infor­ma­tion­srep­lika­tion beruhen, die sich aber gän­zlich im Inter­net abspie­len, also als meme2 (mit ein­er sub­jek­tiv gefühlten Witzkom­po­nente). Diese zweite Bedeu­tungss­chat­tierung haben wir jet­zt auch pho­nol­o­gisch über­nom­men und beze­ich­nen sie mit Meme [mi:m]. Während meme also im Englis­chen die zwei Bedeu­tun­gen meme1 und meme2 abdeckt, haben wir im Deutschen Mem(e) [me:mə] für meme(s)1 und Meme(s) [mi:m] für meme2 und somit ein­deutig eine Bedeu­tungs­d­if­feren­zierung und eine Bere­icherung für die deutsche Sprache.

Dieser Ansicht ist auch Karo­line, die argu­men­tiert, dass Meme die Bere­iche abdeckt, die viral nicht abdeck­en kann. Das ist kor­rekt, allerd­ings ist es mein­er Ansicht nach eine falsche Argu­men­ta­tion. Was mit Meme und viral beze­ich­net wird, sind ‘Rep­lika­tor’ bzw. ‘Rep­lika­tion’: viral beze­ich­net eine Art der Rep­lika­tion, also wie die Rep­lika­toren (Memes) ver­bre­it­et wer­den. Also in diesem konkreten Fall davon abge­se­hen, dass Meme ein Nomen und viral ein Adjek­tiv ist (die Sprachge­mein­schaft hätte natür­lich auch viral in ein Nomen kon­vertieren kön­nen, um die Bedeu­tung von Meme abzudecken).

Ver­wen­dungs­beispiele seien hier kurz ange­führt (inkl. der Belege, die bei der Nominierung aufge­führt wurden):

 Die Koop­er­a­tion von Youtube und dem Guggen­heim-Muse­um Ende let­zten Jahres sollte demon­stri­eren: Die Mut­ter aller Video­plat­tfor­men kann mehr als Musik, ille­gale Auss­chnitte und Meme schleud­ern. (DRa­dio Wis­sen, 23.11.2011)

John Pike und das Hitler-Meme John Pike ist zu einem Meme gewor­den, so nen­nt man schnell sich über das Inter­net sich ver­bre­i­t­ende Bild­witze und Film­chen. (Die Welt, 24.11.2011)

Die Buch­lieb­haber-Chal­lenge – Das zweite Meme! (Noth­ing More Delight­ful, 15.11.2011)

Inter­net Memes im Überblick: Wo sie herkom­men und was sie bedeuten. (Juliane Waack, blogwatch.germanblogs.org, 20.05.2011)

Aber einige der derzeit über­all kur­sieren­den Gut­ten­berg-Meme sind ein­fach zu schön, um unter­schla­gen zu wer­den: (Flo­ri­an Bay­er, seite360.de, 17.02.2011)

Eine schöne Samm­lung von eigentlichen Memes ist auch die Meme-Daten­bank knowyourmeme.com.

Der Voll­ständigkeit hal­ber: Genuszuweisung ver­mut­lich aus­nahm­s­los und ein­deutig Neu­trum (das Meme), möglicher­weise in Analo­gie zu das Mem, das Gen; Plur­al die Memes.

(Wobei man natür­lich nicht abschließend sagen kann, dass Meme auch immer [mi:m] ist: dafür sind einige hier nicht aufge­führte Ver­wen­dun­gen in Abwe­sen­heit von numeru­sanzeigen­den Artikeln (ein bzw. das Meme), sowie auf­grund der pho­nol­o­gis­chen Inte­grier­barkeit in unser Phone­m­inven­tar und natür­lich der ety­mol­o­gis­chen und konzep­tionellen Über­schnei­dung von meme1 und meme2 nicht ein­deutig als [me:mə] oder [mi:m] inter­pretier­bar. Die Ambi­gu­i­tät ist aber auch gar nicht so entschei­dend, son­dern im Prozess des Bedeu­tungswan­dels normal.)

Kri­teri­um der Dif­feren­zierung erfüllt? Ja.

Aktualität

Wie aktuell ist Meme? Wie oben ange­führt, kann Meme als Plur­al von Mem die Suche erschw­eren. Hier soll der Blick in eine GoogleIn­sight-Suche für Mem und Meme genü­gen: Dort ist 2011 eine deut­liche Häu­figkeit­stren­nung von Mem und Meme zu erken­nen. Bis etwa 2011 ver­laufen Meme [me:mə] und Mem im Gle­ich­schritt, ab 2011 steigt Meme sprung­haft an, auch der hypoth­e­sierte Plur­al von Meme, Memes nimmt erst neuerd­ings wirk­lich zu. Dies ließe den vor­sichti­gen Schluss zu, dass wir es 2011 tat­säch­lich mit ein­er Häu­figkeit­szu­nahme von Meme [mi:m] zu tun haben. Dies leg­en auch die Top­suchan­fra­gen für meme nahe: face­book memememe gen­er­a­tor oder inter­net meme, also eben nicht im Sinne von Mem (GoogleIn­sights unter­sucht allerd­ings nur nach Region [hier: DE], lei­der nicht nach Sprache).

Kri­teri­um der Aktu­al­isierung erfüllt? Vor­sichtiges Ja.

Metabemerkung

Was mich fach­lich fasziniert an Meme, Rep­lika­toren und Rep­lika­tion: in der Lin­guis­tik wurde von William Croft (1996, 2000) ein analoges Mod­ell zum Gen- und Mem-Pool vorgeschla­gen, um Sprach­wan­del im evo­lu­tionären Sinn erk­lären zu kön­nen: The­o­ry of Utter­ance Selec­tion (etwa: The­o­rie der Äußerungsauslese). Dort sind sprach­liche Äußerun­gen die Rep­lika­toren aus ein­er Pop­u­la­tion der Sprache, geäußert (repliziert) von den Mit­gliedern der Sprachge­mein­schaft. Eine Äußerun­gen wird danach dann mit höher­er Wahrschein­lichkeit repliziert, je mehr oder bess­er sie eine expres­sive Funk­tion erfüllt (Dar­wins Idee “Sur­vival of the fittest”). Dies ist nicht ger­ade Antwort 42 — aber ein mod­el­liert­er Ansatzpunkt, um das Über­leben und die Ver­bre­itung von sprach­lichen Äußerun­gen auf allen Ebe­nen der Sprache the­o­retisch erk­lären zu kön­nen (aber nicht voraus­sagen!). Das ist für die Wahl natür­lich nur ein fach­lich­er und sub­jek­tiv­er Meta-Ein­schub, erin­nert mich aber daran, dass ich mir das nochmal genauer anschauen [bitte Modalverb der Wahl einsetzen].

Fazit

Das hätte ich vor drei, vier Stun­den (bzw.: vor der gestri­gen Sper­rung mein­er Web­seite) nicht gedacht: Meme ist sog­ar ein ziem­lich guter Kan­di­dat. Er hat echte Über­lebungschan­cen, ist auf dem Vor­marsch und da er nicht auf einen Social Media-Bere­ich beschränkt ist, ste­ht Meme auch der bre­it­en Sprachge­mein­schaft offen — sofern sie natür­lich im weit­eren Sinne mit Inter­net­tech­nolo­gie ver­traut ist und mit ihr umge­hen kann. Und anders als bei vie­len Kan­di­dat­en haben wir hier keine Entlehnung, die wir bedeu­tung­stech­nisch ein­gre­gren­zt, ver­all­ge­mein­ert oder ver­schoben haben (aber was nicht ist, kön­nte noch wer­den — obwohl ich das für eher unwahrschein­lich halte), son­dern eine, die wir in konzep­tioneller Gänze  importiert haben.

Lit­er­atur:
Croft, William. 1996. Lin­guis­tic Selec­tion: An Utter­ance-based Evo­lu­tion­ary The­o­ry of Lan­guage Change. Nordic Jour­nal of Lin­guis­tics 19: 99–139.
Croft, William. 2000. Explain­ing Lan­guage Change: An Evo­lu­tion­ary Approach. Long­man.
Dawkins, Richard. 1989. The Self­ish Gene. Oxford Uni­ver­si­ty Press. (Kapi­tel 11: Memes: the new repli­ca­tors).

 

 

[AdJ 2011] — Welches ‑gate nimmst du?

Von Susanne Flach

Heute bloggen Kristin und ich zeit­gle­ich zum Kan­di­dat­en -gate. So ein Par­al­lel­post haben wir uns schon im let­zten Jahr gegön­nt: wir wis­sen also bis 22 Uhr nicht, welche Über­legun­gen die andere angestellt hat, wo sie gesucht hat und zu welchem Ergeb­nis sie kommt. Reizvoll.

(Hier geht’s zu Kristins Beitrag. Sie hat auch die Nominierungs­be­grün­dung von Patrick Schulz aus­ge­graben — ich hat­te gar nicht auf Kom­men­tar­seite 4 geguckt. Auch gut. Dann war ich wenig­stens nicht in eine von bei­den Rich­tun­gen vor­ein­genom­men, weil Patrick let­ztes Jahr das Siegerwort leak­en nominiert hatte.)

Nun denn: Zum ersten Mal in der tra­di­tion­sre­ichen Geschichte der Wahl zum Anglizis­mus des Jahres ist ein Affix nominiert bzw. hat die erste Runde über­standen: -gate. Die Nominierung, genauer gesagt eigentlich die Entlehnung eines gebun­de­nen Deriva­tion­s­mor­phems an sich, ist deshalb ein biss­chen erstaunlich, weil in den aller­meis­ten Fällen unge­bun­dene, also freie lexikalis­che Ein­heit­en entlehnt wer­den. Es sind also besoders Nomen und Ver­ben, die Sprachen mit Vor­liebe aufnehmen; mit ein klein biss­chen Abstand fol­gen Adjek­tive — und ganz sel­ten in der Entlehnung­shier­ar­chie ste­hen Ein­heit­en, die sich eher am gram­ma­tis­chen Ende unseres Wortschatzes befinden.

Jet­zt haben wir mit -gate also ein Suf­fix, ein (augen­schein­lich) gebun­denes Mor­phem, ein Nom­i­nal- bzw. Derivationssuffix.

Aktualität?

In der Kürze der Zeit im ausklin­gen­den Semes­ter war es mir unmöglich, eine eventuelle Häu­figkeit genau zu bemessen bzw. das Vorkom­men des — nen­nen wir es vor­läu­fig — Wortbe­standteils genauer auf einen Zeitraum einzu­gren­zen. Das liegt primär daran, dass -gate in ober­fläch­lichen Suchan­fra­gen alle möglichen Wortkom­bi­na­tio­nen auswirft, die auf -gate enden: eine flotte Aufzäh­lung bein­hal­tet beispiel­sweise Sur­ro­gate, Aggre­gate, Agate, Spa­gate oder Col­gate. Ander­er­seits wer­den all die “echt­en” -gates überse­hen, die sich bere­its in der Schrei­bung der deutschen Orthografie angepasst haben: also eben nicht Karatchi-Gate oder Bat­tery-Gate, die mit einem Binde­strich die Suche ermöglichen und erleichtern.

Die schnelle Suche in Zeitungsko­r­po­ra bei Cos­mas II ergibt ein eben­so ver­wirrtes Bild und hil­ft bei der Aktu­al­ität­süber­prü­fung nur so viel weit­er: -gate ist als Affix schon lange belegt, eigentlich deut­lich zu alt und für die Wahl 2011 schon vor­weg nicht qualifiziert.

Also müssen wir uns der Nominierung anders näh­ern. Ich werfe deshalb zwei Fra­gen in den Raum: 1.) Hat sich die Bedeu­tung in den let­zten Jahren vor und speziell in 2011 spür­bar vom Surrogat(e) Water­gate ent­fer­nt? Dann frage ich mich allerd­ings auch 2.): worum han­delt es sich eigentlich — um ein Deriva­tion­saf­fix oder vielle­icht doch um den Kopf eines Kompositums?

Ursprung

Na, das über­rascht jet­zt nie­man­den: Water­gate, 1972. Der OED (in der Aus­gabe von 1989, auf der die online ver­füg­bare Def­i­n­i­tion beruht) definiert es folgendermaßen:

A ter­mi­nal ele­ment denot­ing an actu­al or alleged scan­dal (and usu­al­ly an attempt­ed cov­er-up), in some way com­pa­ra­ble with the Water­gate scan­dal of 1972.

Ein Skan­dal mit großer poli­tisch-gesellschaftlich­er Strahlkraft, kön­nte man sagen. Damals.

Im Englis­chen war -gate übri­gens ganz flott pro­duk­tiv zur Stelle (OED):

  1. Vol­ga­gate (1973), Dal­las­gate (1975), Kore­a­gate (1976),
  2. Motor­gate (1975), Lance­gate [is no Water­gate] (1977),
  3. Wine-gate (1973), Ice Cream Gate (1977)

Dabei sind die Grup­pierun­gen hier seman­tisch motiviert vorgenom­men (die sich bis heute wenig ver­wun­der­lich gehal­ten haben): Gruppe 1 ist nach den Orten des Skan­dals, Gruppe 2 nach den Namen der involvierten Per­so­n­en oder Pro­duk­ten und Gruppe 3 nach der Sub­stanz des Skan­dals ein­ge­ord­net. Außer­dem scheint mit zunehmender Zeit die Wucht des Skan­dals und sein­er Öffentlichkeitswirkung doch recht deut­lich abzunehmen.

Inter­es­sant ist auch, dass der OED -gate nicht als pro­to­typ­is­ches Affix kat­e­gorisiert, son­dern als com­bin­ing form. Dies sind For­men, die wie Affixe auftreten (als gebun­dene Mor­pheme), also wie etwa die form medico- (von med­ical), dazu gehören auch beispiel­sweise gebun­dene Mor­pheme wie -olo­gy, bio-, physio- oder astro-, die man auch als Wort­bil­dungse­le­mente der soge­nan­nten neok­las­sis­chen Kom­po­si­tion beze­ich­net (Wort­bil­dung mit gebun­de­nen lateinis­chen oder griechis­chen Ele­menten). Mit -gate scheinen wir uns also in der Grau­zone zwis­chen Kom­po­si­tion und Deriva­tion zu befind­en: Kom­po­si­tion wäre es nur dann eindeutig(er), wenn -gate ein freies Mor­phem wäre. (Ich suche aber noch die Rel­e­vanz der Erken­nt­nis, dass es sich um ein Kom­po­si­tion­se­le­ment han­deln kön­nte.)

Kompositum?

Die Frage ist für die Wahl aber drit­trangig und abschließend beant­worten möchte ich sie nicht. Jaha, dann kam heute näm­lich Babette und tat uns und der Twit­terge­meinde einen ganz wun­der­baren Gefall­en! Das lustige Ket­ten­mail­gate aus dem Bun­destag förderte heute unter anderem diese Ver­wen­dun­gen von Gate als freies Mor­phem zu Tage:

Ein Gate und die #Pirat­en sind nicht dabei? Ich pran­gere das an! #kürschn­er­gate (25. Jan­u­ar 2012) [@AlterPirat]

Mal ein Gate, ohne dass #Pirat­en scheisse gebaut hät­ten. #kürschn­er­gate (25. Jan­u­ar 2012) [@TeleGehirn]

wüsste er, was ihr hier alles als “gate” beze­ich­net, würde richard nixon sich im grabe umdrehen. (25. Jan­u­ar 2012) [@dielilly]

Das ken­nen wir auch schon von Ismus (“Das ist doch bloß wieder so ein komis­ch­er Ismus!”) — das gernz­i­tiertes Beispiel von freige­set­zten Mor­phe­men (mit lexikalis­ch­er Bedeu­tung). Das macht Kom­mu­nis­mus oder Fem­i­nis­mus natür­lich nicht zu Kom­posi­ta. Aber bei Gate bestünde dur­chaus das Poten­tial, dass es sich für den kleinen, leicht amüsant anmu­ten­den Skan­dal für die Früh­stückspause dur­chaus verselb­st­ständigt. Abwarten. Aber Gemach, Gemach — immer­hin suchen wir hier den Anglizis­mus des Jahres 2011 und nicht das Freie Mor­phem 2012.

#kürch­n­er­gate ist seit Stun­den Top­trend bei Twit­ter. Das ist nicht über­raschend — und illus­tri­ert die Bedeu­tungsver­schiebung von -gate in die Rich­tung, dass sich bei dem entsprechen­den Ereig­nis eben noch nicht mal um einen Skan­dal han­deln muss, um ein Gate zu sein.

Produktivität?

Diese Ein­schätzung wird von einem Beitrag in der Frank­furter All­ge­meinen (21.01.2012) gestützt:

Aber man kann Lauer, der ein­er von 15 Abge­ord­neten der Piraten­partei im Berlin­er Abge­ord­neten­haus ist, auch sehr schnell zum Aus­ras­ten brin­gen. Man muss nur „Part­ner­gate“ sagen, „Salz­gate“ oder „Eso­gate“. Es sind die auf Twit­ter benutzten Codewörter der Skandälchen, mit denen die Berlin­er Pirat­en es in let­zter Zeit regelmäßig in die Haupt­stadt­boule­vard­presse geschafft haben.

Also davon abge­se­hen, dass wir ver­mut­lich Prob­leme mit der Aktu­al­ität bekom­men, finde ich diese Bedeu­tungsver­schiebung eigentlich ziem­lich rel­e­vant für die Wahl. Die Suche im Cos­mas II bleibt hier ober­fläch­lich, aber ein gewiss­es Muster zeich­net sich ab:

Waterkant­gate” nen­nen spitze Zun­gen die kaum glaublichen Wahlkampfvorgänge, die bewirk­ten, daß laut und in allen Lagern von Poli­tik und Gesellschaft die Frage nach der Moral der Macht gestellt wird.
1987, Mannheimer Mor­gen, 3. Dezem­ber [H87/KM6.09413]

Welchen Song müßte er heute spie­len, um sein durch “Mon­ica­gate” ram­poniertes Image aufzupolieren?
1998, Frank­furter Rund­schau, 6. April [R98/APR.27953]

Die Lokal­presse fand einen grif­fi­gen Titel für den Abhörskan­dal im CDU-Haus: “Weser­gate”.
2003, Rhein-Zeitung, 1. Juli [RHZ03/JUL.00398]

Der Skan­dal hat­te als »Nip­ple­gate« für Schlagzeilen gesorgt.
2004, Nürn­berg­er Nachricht­en, 24. April [NUN04/SEP.02343]

Die Medi­en sprechen schon vom „Karatschi-Gate“ mit dem Poten­zial, Frankre­ichs neue Staat­saf­färe zu werden.
2010, Nürn­berg­er Nachricht­en, 23. Novem­ber [NUN10/NOV.02267]

Auch ein Kabi­nettsmit­glied ges­tand, dass ein Krawat­ten­verzicht erhe­blichen häus­lichen Ärg­er aus­gelöst hätte. Krawat­ten-Befür­worter sehen in See­hofers Vorstoß ein bedauer­lich­es Krawat­ten-Gate: „Stil­los“ und eine „Mis­sach­tung des Par­la­ments“, schimpfte ein auf Tra­di­tion bedachter CSU-Abgeordneter.
NUZ11/JUL.01355 Nürn­berg­er Zeitung, 14.07.2011

Es ist nur eine Stich­probe — aber wir sind im Deutschen offen­bar von der großen Staat­saf­färe zum kleinen Kan­ti­nen­witz gewan­dert. Von Water­gate zu bajuwarischen Empörung über Krawat­ten? Also da gehört schon eine gehörige Por­tion Dra­maque­enge­quen­gel, aus Let­zterem sowas wie Ern­sthaftigkeit rauszule­sen. Außer­dem fehlt der heuti­gen Ver­wen­dung der Aspekt der Ursprungs­be­deu­tung bzw. der, die noch in den 2000er Jahren vorherrschend war, näm­lich das des Staatsskan­dals und des die Öffentlichkeit täuschen­den Vertuschens.

Fazit?

Ich bin mir nicht sich­er, ob all diese Argu­mente -gate wirk­lich für einen der Top­plätze qual­i­fizieren. Was aber inter­es­sant ist, in Erman­gelung der son­st eher dürfti­gen Erfül­lung der Nominierungskri­te­rien: Wir haben eine Bedeu­tungsver­schiebung zum kleinen, amüsan­ten Skan­dal für zwis­chen­durch. Erneut ist für diese Ein­schätzung natür­lich der Sog von Twit­ter mitver­ant­wortlich. Und in der Kürze der Zeit dann trotz­dem eine span­nende und unter­halt­same Ent­deck­ung, auch für mich. So ist -gate dann doch irgend­wie ein putziger Kan­di­dat — vielle­icht mit Außen­seit­er­chan­cen, weil wir jet­zt ver­all­ge­mein­ert und unge­hemmt pro­duk­tiv auf alles anwend­bar die Gates belächeln dürfen.

[AdJ 2011] Where’s my Masterand?

Von Susanne Flach

Nominiert wurde Mas­terand von Leser/in kww:

Ich möchte das Wort “Mas­terand” vorschla­gen. Es ist natür­lich eine Analo­giebil­dung zu Diplo­mand, d.h. es beze­ich­net jeman­den, der an sein­er Mas­ter­ar­beit arbeitet.

Mir ist dieses Wort in diesem Jahr zum ersten Mal und bish­er nur in mündlich­er Form untergekom­men. Nach der Umstel­lung von den Diplom­stu­di­engän­gen zu Bach­e­lor/­Mas­ter-Stu­di­engän­gen taucht diese Sorte Men­schen jet­zt zum ersten Mal auf (zumin­d­est in mein­er Umge­bung). Google zeigt, dass es auch schriftlich vorkommt, vor allem in Stel­lenanzeigen und da meis­tens in der Kom­bi­na­tion “Diplomand/Masterand”.

Begeben wir uns auf Exkur­sion und begin­nen ein wenig früher.

Der Begriff Mas­ter, genau wie der unter augen­schein­lich­er Ver­drän­gung lei­dende Mag­is­ter, geht — wenig über­raschend — auf das Lateinis­che mag­is­ter zurück (Kluge 1889; Grimm­sches Wörter­buch [DWB]). In verkürzter Form wird mag­is­ter meist als ‘Lehrer, Gelehrter, Meis­ter’ wiedergegeben. Es ist auch ver­wandt mit dem deutschen Meis­ter und deshalb auch mit allen möglichen Ämtern (Bürg­er­meis­ter, ursprünglich wohl antonymisch-ana­log gebildet: Min­is­ter); also irgend­wie im Wort­feld der Gelehrten und Mächti­gen. Der Duden erwäh­nt gar die mor­phol­o­gis­che Ver­wandtschaft zu Mag­nat [s. ‘Herkun­ft’, da magis ‘mehr’, als adv. zu mag­nus, siehe auch magna cum laude, Magna Car­ta — alles irgend­wie Große halt].

Mag­is­ter (lat.) erfuhr im Deutschen nach der schon in früheren Sprach­sta­di­en geklaut­en lateinis­chen Bedeu­tung und Entlehnung Meis­ter im Mit­te­lal­ter eine weit­ere, zweite Entlehnung unter Kon­servierung des lateinis­chen Begriffs, näm­lich eine “von den uni­ver­sitäten seit dem 15. jahrh. aus­ge­hende, mit beibehal­tung der gelehrten lateinis­chen form: mag­is­ter lib­er­al­i­um artium wurde der in der artis­ten- (philosophis­chen) fac­ultät zum range der lehrerschaft erhobene genan­nt; auch doc­toren der the­olo­gie hieszen mag­istri” (DWB).

Immer noch ein Gelehrter (und stre­it­bar Mächtiger), aber eben mit der Bedeu­tungss­chat­tierung im akademis­chen Rahmen.

Warum das alles? Weil es im Englis­chen ähn­lich ablief. Also auch hier mag­is­ter > maystr (in diversen Schrei­bun­gen) > mas­ter. Schauen wir uns dazu mal eine Auswahl der reich­halti­gen Belegsamm­lung des OED unter dem Stich­wort mas­ter[1. “mas­ter, n.1 and adj.”. OED Online. Decem­ber 2011. Oxford Uni­ver­si­ty Press. 20 Jan­u­ary 2012 <http://www.oed.com/viewdictionaryentry/Entry/114751>.] an, wo allerd­ings die über­wälti­gende Anzahl an Ein­trä­gen (Bedeu­tun­gen) meine Vorstel­lungskraft von Wortbe­deu­tungs­ket­ten und ‑rela­tio­nen auf eine herbe Probe stellt — deshalb wirk­lich Auswahl:

In der Bedeu­tung als erster Ein­trag: ‘Herrsch­er, Mächtiger, Führer’

Ðonne he gemette ða scylde ðe he stier­an scolde, hrædlice he gecyðde ðæt he wæs mag­is­ter & ealdormonn.
(10. Jhd., King Ælfred, Pas­toral Care, Hat­ton xvii. 117; Über­set­zung: van Gelderen 2010: 46)

witodlice he sette him weor­ca mægstras, þæt hy gehyn­don hi mid hefigum byrþenum.
(11. Jhd. Old Eng. Hexa­teuch: Exod. (Claud.) i. 11)

Heo­re aȝene pine neure nere þe lesse þah heo meistres weren.
(13. Jhd., MS Lamb. in R. Mor­ris Old Eng. Hom­i­lies (1868) 1st Ser. 43)

A kingis prou­ost may haue na mare pow­er na has his mais­ter.
(15. Jhd., G. Hay Bk. Law of Armys (2005) 103

(Ich bitte um Entschuldigung — meine Altenglis­chken­nt­nisse reichen noch nicht aus, um mich in zeitlich vertret­barem Aufwand durch Kasuswin­dun­gen und Satzk­lam­mern zu friemeln.)

Es fol­gen 13 Hauptein­träge mit ein­er scroll­balke­natomisieren­den Zahl an unter Umstän­den obso­leten Unterbe­deu­tun­gen: Man­ag­er, Auf­se­her, Haushaltsvorste­her, Mil­itärober­er, Arbeit­ge­ber, Jeman­den-irgend­was-tuend-in-ein­er-Schule, irgend­was-tech­nis­ches (mas­ter slave), Haustierbe­sitzer (obäch­tle! Her­rchen!), Sieger ein­er Schlacht, Jemand-mit-Macht, Freier Mann, être maître, a woman’s huband, Schiff­skapitän, Besitzer von irgend­was — vielle­icht hätte ich mich auf Online Ety­mol­o­gy Dic­tio­nary beschränken sollen — Bridge­spielka­rte, Haupt­doku­ment, Gramophon­teil — oha, ab Bedeu­tung 11: Lehrer, in Kom­posi­ta auch als Schuldirek­tor, Lehrmeis­ter, Stil- und Kun­stikone — und wenn ich lange genug suchen würde, bes­timmt auch noch im Wort­feld des Spaßvogels.

Dreißig Kilo­me­ter (es fol­gen dann noch 10 weit­ere Ein­träge und eine Lat­te an offen­bar def­i­n­i­tion­swürdi­gen Kom­posi­ta) später sind wir also bei:

A hold­er of a senior degree from a uni­ver­si­ty or oth­er aca­d­e­m­ic insti­tu­tion, the degree being orig­i­nal­ly of a sta­tus which con­veyed author­i­ty to teach at a uni­ver­si­ty. Now usu­al­ly: the hold­er of a post­grad­u­ate degree below the lev­el of a doctorate.

Per­son mit einem weit­er­führen­den Abschluss ein­er Uni­ver­sität oder ein­er anderen akademis­chen Ein­rich­tung; der Grad befähigte ursprünglich zur Lehre an ein­er Uni­ver­sität. Jet­zt beze­ich­net mas­ter üblicher­weise den/die Träger/in eines post­graduierten Abschlusses unter­halb eines Doktorgrades.’

Bis ins 19. Jahrhun­dert beschränk­te sich mas­ter über­wiegend auf die Geis­teswis­senschaften (als Mas­ter of Arts oder mag­is­ter artium), das Dok­torat war das Pen­dant in den anderen Fäch­ern. In dieser Bedeu­tung ist mas­ter erst­mals 1380 belegt:

Heyr lyis Ingram of Kethenys prist maystr in arit.
(1380, Proc. Soc. Anti­quar­ies Scotl. (1896) 30 42.)

Nehmen wir die Orthografie als brauch­baren Indika­tor zur Aussprache, lis­tet der OED eine beein­druck­ende Liste an Entwick­lungssta­di­en von mag­is­ter > mas­ter:

Altenglisch (bis ca. 11. Jdh.): mæg­ster, magester, mag­is­ter, mægester, mægister
Im Über­gang zu Mit­te­lenglisch (11. Jdh.): mestre, mæstere
Mit­te­lenglisch (12.–14. Jdh.): maȝȝstre, mais­tere, maistr, mais­tur, maistyr, maystere, may­stir, maystur, maystyr, meis­ter, mei­s­tir, meistre, mesteir, meyster, mai­s­tir, mayster, maystre, maister,
Spätes Mit­te­lenglisch (15–16 Jhd.): masster, mas­tur, mas­tir, mastyr, mas­tre, mas­ter, mas­tar, muster;
Schot­tisch (17. Jhd.): maiester, mais­tere, mais­ter­ris (plur­al)
Eng. Region­al (18. Jhd.): maaster (north.), maas­ther (north.), maes­tur (west.), mais­ter,  mais­ther (north.), marster (south-east.), mayster, meast­er, meeast­er (north.), mester (north.), mes­ther (north.), mes­tur (north.);

Was auf­fällt: Bere­its im Mit­te­lenglis­chen war das <g> und ver­mut­lich lange davor auch das [ɡ] ver­schwun­den. Außer­dem war Mit­te­lenglisch recht nahe am heuti­gen Meis­ter. Durch Lautver­schiebun­gen und einem inten­siv­en Sprachkon­takt mit dem Alt­nordis­chen und Franzö­sis­chen (OED), lan­den wir im Früh­neuenglis­chen (etwa ab 1500) beim mas­ter. Man kön­nte fast sagen: Eine laut­liche Entwick­lung, die im Deutschen beim Meis­ter und akademisch beim Mag­is­ter ste­henge­blieben zu sein schein — die dann vom Bologna-Prozess aber hop­pla­hopp vor­angetrieben wurde.*

Kom­men wir zum Wesentlichen, son­st ste­ht nach­her im Kom­men­tar­bere­ich: “The­ma ver­fehlt!”. Immer­hin ist Mas­terand nominiert und die Fest­stel­lung, dass die Englis­che Sprache im Sprach­wan­del mal wieder n Zack­en flot­ter war, ist ja auch nicht so neu. Wie der/die Nominierende ver­mutete, ist Mas­terand eine analoge Bil­dung zu Diplo­mand und Mag­is­trand — also als Beze­ich­nung für jeman­den, der/die ger­ade kurz vor Erlan­gung des akademis­chen Grades ste­ht, also hier dem des Mas­ters. Mit Ein­führung der Bach­e­lor- und Mas­ter­ab­schlüsse und dem Aus­laufen der tra­di­tionellen Diplom- und Mag­is­ter­ab­schlüsse fehlen uns offen­bar auch die Gegen­stücke zu diplomieren und mag­istri­eren. Man kön­nte  ein­wen­den, dass mag­istri­eren gar nicht existiert — zugegeben, 255 Tre­f­fer sind im Ver­gle­ich zu über ein­er hal­ben Mil­lion für diplomieren nicht ger­ade üppig.

Wozu mag­istri­eren und diplomieren? Das Nom­i­nal­suf­fix -and ist ein Deriva­tion­ssuf­fix, das aus Ver­ben auf -ieren die entsprechen­den Nomen macht: neben den Diplo­man­den, Dok­toran­den und Habil­i­tanden gibt es auch die Proban­den, Kon­fir­man­den und Reha­bil­i­tanden, in der Math­e­matik (also unbelebte Entitäten) die Sum­man­den, Mul­ti­p­likan­den, Operan­den oder Inte­granden. Dieses Deriva­tion­ssuf­fix gibt es auch in der sel­teneren Alter­na­tive -end: Sub­tra­hend oder Div­i­dend — und aus dem Reich der Akademie natür­lich der Pro­movend.

Die deut­lich pro­duk­ti­vere Vari­ante ist das Suf­fix­paar -ant/-ent: auch hier wer­den Nomen aus -ieren-Ver­ben abgeleit­et, allerd­ings mit einem sub­tilen seman­tis­chen Unter­schied: Absol­vent, Min­is­trant, Diri­gent, Emi­grant, Emi­tent, Fab­rikant, Kor­re­spon­dent, Demon­strant, Kon­tra­hent oder Queru­lant beze­ich­nen Per­so­n­en, die die Verb­hand­lung selb­st ausführen.

Die -and/-end-Nomen hinge­gen beze­ich­nen Per­so­n­en, die von der Verb­hand­lung betrof­fen sind (Canoo.net, Duden.de). Manche qual­i­fizieren sich also über den Min­is­tran­ten zum Kon­fir­man­den. Darin liegt vielle­icht auch eine der Gründe der Kon­fu­sion, ob man (selb­st) eigentlich pro­movieren kann oder ob man pro­moviert wird. (Dies ist mir bish­er vor allem von Sprach­pflegern vorge­hal­ten wor­den, weil ich sage: man kann auch *hüs­tel* selb­st pro­movieren; also sprach­lich.) Ergoexkurs: Müsste man nicht sog­ar eine Unter­schei­dung zwis­chen Pro­movent und Pro­movend ziehen?

In einem Forum­sar­tikel bei leo.org bericht­en einige Foris­ten von ihren Bauch­schmerzen beim Wort Mas­terand (was ana­log aber auch für Bach­e­lo­rand gilt): Warum nicht Mas­ter-Stu­dent? Weil es nicht aus­re­ichend genau ist: Ein Mas­ter-Stu­dent beze­ich­net all­ge­mein­er jeman­den, der in einem Mas­ter­stu­di­en­gang eingeschrieben ist. Der Mas­terand hinge­gen spez­i­fiziert den Zeit­punkt des Studi­ums — kurz vor dem Abschluss.

So suchen bere­its viele Unternehmen in Stel­len­börsen und ‑anzeigen Mas­teran­den, oft wer­den derzeit noch Diplo­man­den ange­sprochen. Die gesucht­en Mitar­beit­er wer­den meist aus tech­nis­chen Stu­di­engän­gen rekru­tiert, weil sie ihre Abschlus­sar­beit­en häu­fig als Werk­studierende in den Unternehmen schreiben kön­nen. Das dürfte auch der Grund sein, weshalb Mas­terand eine recht stat­tliche Anzahl von Google­tr­e­f­fern erzielt, aber in Trendlis­ten (z.B GoogleIn­sights) oder Kor­po­ra so gut wie gar nicht auf­taucht (weshalb die Nominierung in der Jury sehr skep­tisch gese­hen wurde) und wohl im all­ge­meinen Sprachge­brauch noch nicht angekom­men zu sein scheint.

Ein­er der Leo-Foris­ten merkt an, dass Mas­terand unsin­nig sei, weil — wenn sich Dok­torand und Diplo­mand von Ver­ben auf -ieren ableit­en — es gar kein mas­terieren gäbe. Nun ja, das ist aber auch nicht das Entschei­dende: Erstens kann man ana­log zu diplomieren oder pro­movieren natür­lich mas­terieren ver­wen­den, um die stres­sige Phase kurz vor dem akademis­chen Abschluss zu umschreiben. Zweit­ens ist auch diplomieren nicht ein­fach vom Him­mel gefall­en, son­dern eben­falls eine Deriva­tion, näm­lich von Diplom, dem Abschlussgrad also. So ist der Deriva­tion­sprozess Mas­ter > mas­terieren > Mas­terand qua­si impliz­it. Außer­dem finde ich diplomieren per­sön­lich auch nicht so nahe dran am Diplo­mand, wie beispiel­sweise pro­movieren am Doktoranden/Promovenden dran ist — weil bei der Dok­torar­beit jed­er nor­maler­weise bere­its mit dem Auf­schla­gen des ersten Buch­es pro­moviert, also während des gesamten Pro­mo­tion­sstudi­ums — und nicht erst in der heißen Endphase.

Drit­tens, und das ist entschei­dend, ist die Betra­ch­tung der Bil­dung von Mas­terand auf rein mor­phol­o­gisch-for­malen Aspek­ten über die Ableitung mas­terieren eigentlich eher unspan­nend. Plau­si­bler ist die Annahme, dass die Bil­dung auf der Analo­gie in einem fast iden­tis­chen, seman­tis­chen und konzeptuellen Rah­men beruht, also auf dem Abschlussgrad an sich.

Fazit

Wer es bis hier­hin geschafft hat: Her­zlichen Glück­wun­sch! Denn eigentlich ist die vor­weggenommene Schlussfol­gerung: Kein beson­ders heißer Kan­di­dat für den Anglizis­mus des Jahres.

Warum?

Erstens, und vielle­icht etwas wider­sprüch­lich für die Kri­te­rien der Wahl, weil die Über­lebenswahrschein­lichkeit von Mas­terand nahezu exor­bi­tant hoch ist — zumin­d­est bis wir Mas­ter namentlich durch einen anderen Abschluss erset­zt haben. Mas­terand wird Diplo­mand und Mag­is­trand in weni­gen Jahren kom­plett ver­drängt haben und der Kon­ven­tion­al­isierungsef­fekt wird auch die Bauch­schmerzen heilen. (Die Berufs­beze­ich­nun­gen Dipl-Ing oder Mag­is­ter wer­den mit ihren Trägern/-innen noch etwas überdauern.)

Zweit­ens, und das finde ich im End­ef­fekt für einen Kan­di­dat­en für den Anglizis­mus des Jahres zu wenig: Mas­terand bezieht sich in der Bil­dung auf einen Abschluss, der jeden Namen tra­gen kön­nte (es hat fast Eigen­na­men­charak­ter). Ergo: Es würde genau­so schnell wieder ver­schwinden. Was noch dazu kommt: Es find­et keine wirk­liche seman­tis­che Dif­feren­zierung statt. Also abge­se­hen von der Tat­sache, dass Diplom­stu­di­engänge jet­zt Mas­ter­stu­di­engänge sind — und es wirk­lich eine reine Analo­gie zu den beste­hen­den Begrif­f­en ist (durch Aus­tausch). Auch, dass dem Mas­ter ein Bach­e­lor­grad vorgeschal­tet wurde, ändert nichts an der Tat­sache, dass die Qualen, Pusteln und Stress­si­t­u­a­tio­nen die gle­ichen bleiben.

Drit­tens: Die einzige wirk­liche Bedeu­tungs­d­if­feren­zierung (siehe Nominierungskri­te­rien) befind­et sich eigentlich im Wort Mas­ter, nicht notwendi­ger­weise im Mas­terand. Mas­ter ist aber entsch­ieden zu alt, um 2011 noch irgend­je­man­den anglizis­mentech­nisch vom Hock­er zu hauen. Deshalb war mein erster Reflex auch eher: Und wo ist der Anglizis­mus? Mas­ter dif­feren­ziert aber nicht gegenüber Diplom, son­dern gegenüber seinem ety­mol­o­gis­chen Ver­wandten Meis­ter, also als Grau-Wieder-Re-Über­sprungs-Import. Man hätte für Mas­ter den Meis­ter im Bil­dungswe­sen aus nahe­liegen­den Grün­den aber nicht vorschla­gen kön­nen. Wir ver­tra­gen jede Menge Pol­y­semie — aber bei qual­i­fizieren­den Bil­dungs- und Beruf­s­graden hört die Pol­y­semiev­erträglichkeit auf fach­lich­er Grund­lage auf. Gut, die Nominierungskri­te­rien lassen auch zu, wenn etwas bis dato umständlich umschrieben wer­den musste: so erset­zt Mas­terand die Mas­ter­ar­beitschreiben­den oder gar ganze Phrasen wie die Studieren­den, die ihre Mas­ter­ar­beit schreiben.

Ich finde aber: Das reicht nicht.

Eine let­zte Bemerkung, der ich wirk­lich nicht wider­ste­hen kann: Die Meis­ternör­gler hin­ter dem Anglizis­musin­dex des VDS find­en, dass Mas­ter in den Natur­wis­senschaften ergänzend, für die Geis­teswis­senschaften aber ver­drän­gend ist — das ver­ste­he im Ungle­ich­schritt der Lexiko­nen­twick­lung im Deutschen und Englis­chen wer will: Ger­ade in den Geis­teswis­senschaften wäre der Mas­ter doch eine seman­tisch-ver­wandte Weit­er­en­twick­lung zu Mag­is­ter. Na, was soll’s.

Oder aber ich hab trotz­dem das The­ma ver­fehlt und hätte eigentlich über die Entwick­lung von -and/-end aus dem lateinis­chen Gerun­di­v­suf­fix -andus sin­nieren sollen. Ich set­ze es mal auf meine lange “irgen­wann noch zu bloggen”-Liste.

Spaß gemacht hat’s trotzdem.

DWB: Grimm, Jakob und Wil­helm Grimm. 1854–1961. Deutsches Wörter­buch [DWB]. Leipzig 1971. [Online]

Kluge, Friedrich. 1889. Ety­mol­o­gis­ches Wörter­buch der deutschen Sprache. Straßburg: Trüb­n­er. [Online].

[AdJ 2011] Der Shitstorm ist zurück!

Von Susanne Flach

Die Kan­di­dat­en für die Wahl zum Anglizis­mus des Jahres ste­hen fest — und wer­den von den Jurymit­gliedern in den näch­sten Wochen in Blogs und Foren disku­tiert wer­den. Ich mache bei mir den kurzen Auf­takt mit Shit­storm. Dieser Kan­di­dat ist bere­its zum zweit­en Mal nach 2010 nominiert, wo er es in die Endrunde schaffte (war wenig aus­sicht­sre­ich). Ich disku­tierte Shit­storm bere­its let­ztes Jahr in diesem Beitrag.

In die engere Auswahl schaffte es der Begriff also auch 2011. Shit­storm ist in ein­er schnellen Google­suche 2011 etwa dop­pelt so häu­fig wie 2010. Grund genug, mal zurück und voraus zu blick­en. Außer­dem wen­den wir uns der Frage zu, ob Shit­storm ein soge­nan­nter Scheinan­glizis­mus ist — das gehört auf den ersten Blick nicht hier­her, aber irgend­wie halt doch.

2010 schrieb ich:

Shit­storm lässt sich für das Deutsche all­ge­mein definieren als ‘Sturm öffentlich­er, massen­haft auftre­tender Entrüs­tung (im Web)’. Dabei bezieht sich Shit­storm aber nicht nur auf kon­struk­tive Kri­tik oder erwart­baren Gegen­wind, was ja die nahe­liegende Über­set­zung Protest­sturm beze­ich­nen würde, son­dern es bein­hal­tet – mit den Worten des Blog­gers Sascha Lobo – auch: “eine sub­jek­tiv große Anzahl von kri­tis­chen Äußerun­gen […], von denen sich zumin­d­est ein Teil vom ursprünglichen The­ma ablöst und [die] stattdessen aggres­siv, belei­di­gend, bedro­hend oder anders attack­ierend geführt [wer­den].” (Sascha Lobo, How to sur­vive a shit storm, Vor­trag auf der re:publica 2010)

Daran scheint sich im Grunde nichts wesentlich­es geän­dert zu haben. Es kön­nte sich aber eine Bedeu­tungsausweitung auf Kon­texte eines han­del­süblichen öffentlichen Protests bemerk­bar machen. Die Welt schreibt im Dezem­ber von öffentlichem Wider­stand auch, aber nicht nur, auf Face­book gegen die Wei­h­nachtswer­bung ein­er Elek­tron­ikkette. (Die Über­schrift muss ein Segen für den Jour­nal­is­ten gewe­sen sein!) Ganz ähn­lich sieht es das Busi­ness­magazin t3n, und kommt zu dem Schluss, dass Def­i­n­i­tio­nen und Ver­wen­dun­gen unein­heitlich sind:

Aus der PR-Sicht sind viele der all­ge­mein als Shit­storm beze­ich­neten PR-Krisen eigentlich gar keine. Erst wenn der Anteil der unsach­lichen, per­sön­lichen Kri­tik die argu­men­ta­tive Kri­tik übertönt, sprechen sie von einem Shit­storm. Berechtigte Kri­tik von Kun­den an einem Unternehmen oder ein­er Marke fällt dem­nach nicht darunter.
All­ge­mein betra­chtet wird der Begriff aber sehr viel weit­er gefasst. Alles was die Rep­u­ta­tion eines Unternehmens, ein­er Marke oder ein­er Per­son schadet und über das Social Web eine Eigen­dy­namik entwick­elt und eine kri­tis­che Masse über­schre­it­et, wird schnell als Shit­storm beze­ich­net. Ob das immer gerecht­fer­tigt ist, ist die andere Frage.

Ich bin mir nicht sich­er, ob die Aktion des Protests gegen den Elek­tron­ikkonz­ern unter die oben skizzierte Def­i­n­i­tion von Shit­storm fällt oder ob wir auf­grund dieser Ver­wen­dung und unter­schiedlich­er Auf­fas­sun­gen, wann ein Protest ein Shit­storm ist, von ein­er Bedeu­tungsausweitung des Begriffs sprechen dür­fen. Bliebe abzuwarten — es spräche aber dafür, dass sich hier ein Begriff vom reinen Social-Media-Kon­text in den öffentlichen, all­ge­meinen Sprachge­brauch ver­schiebt. Ein vor­sichtiges Her­zlichen Glückwunsch!

Die Herkun­fts­be­deu­tung im Englis­chen ist im Gegen­satz zur Ver­wen­dung im Deutschen auf den ersten Blick sehr viel all­ge­mein­er — also meist ganz ohne Web2.0, Social Media und gerne auch ohne die Öffentlichkeit. Nach wie vor find­et sich kein Ein­trag im OED oder im Mer­ri­am. Lediglich in Ein­trä­gen im Urban Dic­tio­nary (oft zweifel­hafte Quellen/Erklärungen) für shit­storm und shit storm oder bei Wik­tionary find­en sich Definitionen.

Set­zen wir mal auf die Def­i­n­i­tion im Wiktionary:

shit­storm, n.,

  1. (vul­gar) A vio­lent situation.
  2. (idiomat­ic, vul­gar) Con­sid­er­able back­lash from the public.

Aber kom­men wir kurz zum Deutschen zurück: Für Shit­storm gibt es seit dem 08. Juni 2011 einen Ein­trag in der deutschen Wikipedia, der Shit­storm über­raschen­der­weise zu den Scheinan­glizis­men zählt — ver­mut­lich auch auf­grund des ober­fläch­lich all­ge­meineren Verwendung/Definition. Scheinan­glizis­men sind Wörter, die sich zwar laut­lich als Entlehnung aus dem Englis­chen tar­nen, die aber entwed­er dort nicht existieren oder eine nicht-ver­wandte Bedeu­tung haben. (Die Wikipedia-Def­i­n­i­tion zu Scheinan­glizis­mus muss hier mal fix her­hal­ten. Wer Tips für eine gute, inter­es­sante wis­senschaftliche Studie parat hat, ab in den Kom­men­tar­bere­ich! Wobei ich “Scheinan­glizis­mus” ohne­hin eher für ein begrif­flich­es Kon­strukt der Sprachkri­tik halte, das uns sagt, dass wir Anglizis­men auch noch “falsch” erfind­en. Aber gut, ich schweife ab.)

Shit­storm (dt.) und shit­storm (engl.) haben aber sehr klar miteinan­der ver­wandte Bedeu­tun­gen. Das, was wir bei Entlehnun­gen ja sehr oft sehen, näm­lich dass wir nur eine von mehreren Bedeu­tungss­chat­tierun­gen importieren, ist auch bei Shit­storm passiert (das ist nix neues gegenüber 2010). Also wenn wir davon aus­ge­hen, dass Shit­storm nicht gle­ich shit­storm ist. Und selb­st wenn wir Shit­storm in einem anderen Kon­text ver­wen­den, so sind die bildlichen Beziehun­gen zwis­chen bei­den Konzepten so deut­lich zu erken­nen, dass ich Shit­storm nicht in einen Topf mit son­st üblicher­weise als Scheinan­glizis­men beispiel­haft aufge­führten Handy oder Beam­er würde wer­fen wollen.

Aber shit­storm wird in der englis­chsprachi­gen Net­zwelt eben doch auch so benutzt, wie bei uns: Das zeigen diese Twit­ter­mel­dun­gen der let­zten Stun­den und Tage aus einem 500km-Radius um New York (Ort willkür­lich gewählt, Ort­sangabe beruht auf den Biografieangaben der Twitterer):

Thank you Novar­tis for not recall­ing per­co­cet and endocet…us pharm­ers would sure­ly be fac­ing a phar­maged­don shit­storm […] [Link,@_RxLauren]

Inter­est­ing arti­cle in immi­gra­tion and eco­nom­ics on #CiF: […] fol­lowed by the usu­al shit­storm of idiots, unfor­tu­nate­ly… [Link, @acatcalledfrank]

Peo­ple give Tebow crap because of his (well-mar­ket­ed) Chris­t­ian beliefs. Imag­ine the shit­storm if he was vocal­ly agnos­tic! [Link, @SeanTheBaptiste]

[…] Once the pub­lic at large becomes aware of #NDAA, Oba­ma is going to learn what “polit­i­cal shit­storm” means. [Link, @Kaveros]

And it was writ­ten by a con! RT @techweenie Pre­pare for con­ser­v­a­tive shit­storm@Newsweek: Pre­sent­ing this week’s cover://t.co/Xlm26rgX #p2 [Link, @thejoshuablog]

Hal­ten wir ein­fach fest: Shit­storm ist kein Scheinan­glizis­mus. Wir haben eben im ersten Schritt nur die eine Bedeu­tung einge­führt. Diese scheint sich auszuweit­en — Kri­teri­um der Bere­icherung für den Sprachge­brauch erfüllt. Die Fest­stel­lung der Bedeu­tung auf­grund der Belegsamm­lung aus dem Englis­chen — obgle­ich in let­zter Instanz irrel­e­vant für unseren Sprachge­brauch — zeigt, dass es ein gen­uin­er Anglizs­mus ist.

Faz­it

Was Shit­storm trotz mein­er Skep­sis aus dem let­zten Jahr in diesem Jahr sog­ar zu einem recht guten Kan­di­dat­en macht: Wir sind offen­bar dabei, den Begriff aus den Face­book- und Twit­ter-Uni­versen rauszu­holen und dem all­ge­meinen Sprachge­brauch zu übergeben — inklu­sive ein­er Bedeu­tungserweiterung. Wie Falk Hede­mann bei t3n schreibt, wird der Begriff “infla­tionär” ver­wen­det — was früher Kri­tik war, sei heute ein Shit­storm.

Ich sehe das anders: Kri­tik und Shit­storm mögen gemein­sam auf einem Protestkon­tin­u­um liegen; die Aus­prä­gun­gen, Aus­führung­sor­gane und Über­mit­tlungskanäle sind aber unter­schiedlich. Das wird auch daran liegen, dass mit steigen­den Nutzerzahlen der son­st stammtis­chliche (hier: eben nicht aus tra­di­tionellen Medi­en abge­feuert­er) Protest in den öffentlichen Raum getra­gen wird. Shit­storm fügt dem Kon­tin­u­um also einen Hal­te­bere­ich hinzu — und gibt dem bish­er unge­hörten, aber neuerd­ings vokalisier­baren Unmut einen Namen.