Sprachnörgler und Sprachwissenschaftler

Von Anatol Stefanowitsch

Zu den let­zten paar Beiträ­gen hier im Sprach­blog haben sich inter­es­sante Diskus­sio­nen entspon­nen, an der sich neue und alte Sprach­blogleser rege beteili­gen. Das freut mich natür­lich und ich werde über die näch­sten Wochen ver­schiedene Aspek­te dieser Diskus­sio­nen auf­greifen und genauer disku­tieren um (noch) deut­lich­er zu machen, wo aus mein­er Sicht die Unter­schiede zwis­chen einem sach­lichen und einem sprach­nör­g­lerischen Umgang mit Sprache liegen (ein „sach­lich­er“ Umgang muss dabei übri­gens nicht unbe­d­ingt sprach­wis­senschaftlich sein — es gibt ja eine Rei­he von Diszi­plinen und Beruf­s­grup­pen, die sich pro­fes­sionell mit Sprache beschäftigen).

Aus zwei Kom­mentaren zum let­zten Beitrag möchte ich hier aber kurz schon ein­mal einen Aspekt aufgreifen.

Andreas schlägt eine The­o­rie der nicht-über­lap­pen­den Wis­sens­bere­iche (eine Art sprach­nör­g­lerische Ver­sion von Gould’s NOMA) vor:

Ich meine, dass Sprachkri­tik­er (genauer: Sprachge­brauchkri­tik­er) wie Herr Sick ein­er­seits und Sprach­wis­senschaftler ander­er­seits keine Konkur­renz darstellen, da sie unter­schiedliche Felder ‘beack­ern’. Da, wo sich Sprach­wis­senschaftler wegen ihres Berufsver­ständ­niss­es aus der Debat­te her­aushal­ten (müssen), sprin­gen Kri­tik­er wie Herr Sick ein, denn unzweifel­haft beste­ht ein großer Bedarf in der Bevölkerung nach Sprachge­brauchssicher­heit, den Lin­guis­ten nicht deck­en kön­nen (oder dürfen).

Natür­lich ste­hen Sprach­wis­senschaftler und Sprach­nör­gler nicht in Konkur­renz zueinan­der: erstere beschreiben und erk­lären, wie Sprache funk­tion­iert, let­ztere denken sich „Regeln“ aus (oder klauen sie von anderen Sprach­nör­glern), reden den Mit­gliedern ihrer Sprachge­mein­schaft sprach­liche Min­der­w­er­tigkeit­skom­plexe ein und verkaufen ihnen ihre aus­gedacht­en „Regeln“ dann als Lösung. Da gibt es in der Tat keine Über­schnei­dung. (Andreas greift einen weit­eren inter­es­san­ten Aspekt auf, den ich mir für einen zukün­fti­gen Beitrag aufhebe). 

Sprachge­brauchssicher­heit ist in den meis­ten Funk­tions­bere­ichen der Sprache eine reine Fik­tion (Wolf­gang Hömig-Groß hat hier ganz richtig die Ben­imm­regeln, die wir mit dem Namen Knigge assozi­ieren, in die Diskus­sion gebracht). Die Sprach­nör­gler bedi­enen sich dieser Fik­tion, aber tat­säch­lich haben sie nichts zum The­ma beizu­tra­gen. Es gibt tat­säch­lich ein paar sprach­liche Funk­tions­bere­iche, in denen gewisse gesellschaftliche Kon­ven­tio­nen herrschen, die sich unter anderem auch auf den Sprachge­brauch auswirken — man denke an förm­liche schriftliche Sprache, z.B. in Bewer­bungss­chreiben, in Sach­tex­ten, in Verträ­gen, in Bedi­enungsan­leitun­gen, usw. Diese Kon­ven­tio­nen stellen einen kom­plex­en Wis­sens­bere­ich dar, in dem es viele Regeln gibt, von denen wenige abso­lut sind. Zum Glück gibt es Profis (Fachau­torin­nen und Tex­ter, Fach­lek­toren und Fachüber­set­zerin­nen, usw.) auf deren Wis­sen und Erfahrung man hier zurück­greifen kann — auf einen Sprach­nör­gler würde man sich hier wohl nicht ver­lassen wollen.

Und Mar­ta fand:

Ach ja, hat irgend­je­mand wirk­lich ein Prob­lem mit Her­rn Sick? Der Mann bringt Stammtis­chnör­gler, Deutschlehrer, besorgte Eltern, Schöngeis­ter und Sprach­wis­senschaftler an einen Tisch. Mich sorgt das über­haupt nicht. Ist doch super, wenn der Eine erfährt, was den Anderen wirk­lich küm­mert, da kön­nen wir doch nur Zuhören lernen.

Ja, warum kön­nen wir nicht alle Fre­unde sein? Ach ja, jet­zt fällt es mir wieder ein: weil wir uns nichts zu sagen haben. Mich inter­essieren die vorge­blichen „Sor­gen“ der Sprach­nör­gler nicht — ich nehme an, dass ihre Motive eigentlich mit Sprache nichts zu tun haben und habe das hier im Blog ja auch immer wieder aus­führlich dargelegt. Eben­so inter­essiert es die Sprach­nör­gler ver­mut­lich nicht, was ich hier zu sagen habe — es würde bei ihren kul­turpes­simistis­chen Unter­gangsphan­tasien ja ohne­hin nur stören. Sick bringt deshalb mit Sicher­heit keine Sprach­wis­senschaftler an irgen­deinen Tisch. Aber Sie haben teil­weise Recht, Mar­ta: er schafft es tat­säch­lich, Schöngeis­ter und Stammtis­chnör­gler gle­icher­maßen zu begeis­tern — an sich schon eine beein­druck­ende Leis­tung, über die sowohl die Schöngeis­ter als auch die Stammtis­chnör­gler ein­mal nach­denken sollten.

Und deskrip­tiv vs. präskrip­tiv ist doch ziem­lich alt. Wie wärs mit ein­er Synthese?

Eine Syn­these zwis­chen ratio­naler Wis­senschaft und bil­dungs­bürg­er­lich­er Ben­immwut? Die Idee lässt sich aus­bauen: wie wäre es mit ein­er Syn­these aus Teilchen­physik und Gesellschaft­stanz? Oder aus Geolo­gie und Land­schafts­gärt­nerei? Oder aus Evo­lu­tions­bi­olo­gie und der Kun­st, einen Pudel zu frisieren?

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

20 Gedanken zu „Sprachnörgler und Sprachwissenschaftler

  1. corax

    Herr Ste­fanow­itsch,

    bis zur vor­let­zten Zeile hab ich gelacht, dann fiel mir die Kinnlade runter. Bodenkunde ist eines der wichtig­sten Fäch­er eines Land­schafts­gärt­ners, sowohl in der Aus­bil­dung als auch im Beruf oder in der Fort­bil­dung zum Meis­ter, Tech­niker oder Dipl.-Ing. Der gesamte Garten- u. Land­schafts­bau ist ohne Ken­nt­nisse über geol­o­gis­che Sachver­halte schlicht undenkbar.

    Oder anders gesagt: der Beruf eines Land­schafts­gärt­ners ist beeits eine Syn­these aus Geolo­gie und Landschaftsgärtnerei.

    Glück auf!

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  2. Giesbert Damaschke

    Sehr schön. Wie über­haupt das ganze Blog, auf das ich erst jetz gestoßen bin und sei­ther begeis­tert kreuz & quer lese. Ein schönes Anti­dot gegen den groben Unfug von Sick, VDS, Sprach­welt & Co.

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  3. Theleprompt

    Wenn die Aus­sage »Mich inter­essieren die vorge­blichen „Sor­gen“ der Sprach­nör­gler nicht« in ihrer All­ge­mein­heit stim­men würde, wäre die Diskus­sion ja eigentlich erledigt. Es gin­ge schlicht und ein­fach um ver­schiedene Dinge. Die Krux ist aber nun, dass die Sprach­nör­gler­frak­tion die öffentliche Debat­te um den Gegen­stand »Sprache« in weit­en Teilen bes­timmt und damit in das Ter­rain der (lei­der wenig sicht­baren) wis­senschaftlichen Diszi­plin Lin­guis­tik hineinspielt.

    Das wäre an sich nicht schlimm, schließlich führt die Tat­sache, dass es karten­le­gende Wahrsager und lebens­ber­ater­büch­er­schreibende Dale Carne­gies gibt, auch nicht dazu, dass unser­er Gesellschaft der Nach­wuchs an guten Psy­cholo­gen aus­ge­ht. Allerd­ings gibt es min­destens zweiein­halb Bere­iche, in denen lin­guis­tisch fundierte Anliegen und sprach­nör­g­lerische Öffentlichkeit­sar­beit die gle­ichen Ohren zu erre­ichen versuchen:

    1. Sprach­di­dak­tik — Was wird unseren Kindern im Fach Deutsch (oder anderem Spra­chunter­richt) ver­sucht beizubrin­gen? Platz und Bedeu­tung der Lin­guis­tik in der Deutschlehreraus­bil­dung zu sich­ern und — so ist zu hof­fen — auszuweit­en, ist eine Auf­gabe, die nicht ein­fach­er wird, wenn die tat­säch­lich Anklang find­en­den »Lehrbüch­er« den Autoren­ver­merk »Sick« führen. Die Deutsch­di­dak­tik ist im Begriff, sich darauf zu ver­steifen, »SMS-Deutsch« zu ver­teufeln und den Kindern auszutreiben, anstatt die eigentliche, d.h. kom­mu­nika­tive und sit­u­a­tion­sangemessene Funk­tion von Sprache zu the­ma­tisieren. So erleben Kinder Deutschunter­richt als »da will mir jemand was ver­bi­eten« anstatt als »da hil­ft mir jemand, angemessene Aus­drucks­for­men zu ent­deck­en und zu entwickeln«. 

    2. Rechtschrei­bung — In der Rechtschreibre­for­mde­bat­te ist spätestens mit dem Ausstieg des einzi­gen Sprach­wis­senschaftlers Peter Eisen­berg aus der Reformkom­mis­sion das Licht der Lin­guis­tik erloschen. Öfentlichkeitswirk­sam war diese sehr ver­ständliche Protesthand­lung nicht. Die Spät­fol­gen der als oktroyiert wahrgenomme­nen Reform sind m.E. noch nicht richtig abse­hbar. Neg­a­tiv müssen sie nicht sein (über­trainierte Rechtschreibkom­pe­ten­zen sind eben kein Ausweis all­ge­mein­er Arbeits­mark­t­tauglichkeit), aber sprach­wis­senschaftliche Argu­mente sind in der öffentlichen Diskus­sion qua­si unsichtbar.

    3. (und das ist der halbe Bere­ich, weil weniger for­mal­isiert) Geschlecht­sneu­trale Sprachver­wen­dung — Erhe­bliche Unsicher­heit im Sprachge­brauch beste­ht bei »poli­tisch kor­rek­ter« Ver­wen­dung geschlecht­sneu­traler For­men. Auch hier gibt es eine gestrüp­par­tige Gemen­ge­lage von Inter­essen und nor­ma­tiv­en Ver­suchen, die nur mar­gin­al aus dem Inter­esse am Gegen­stand Sprache an sich her­rühren. Dass nun aber eine (oder auch mehrere) sprach­wis­senschaftlich motivierte Argu­men­ta­tion­slin­ien in der Debat­te erkennbar wären, kann man nicht wirk­lich behaupten.

    Drei Beispiele, bei denen sich meines Eracht­ens der Großteil der Sprach­wis­senschaftler vorschnell aus der Diskus­sion zurückzieht. Die Teilchen­physik­er wür­den es wohl nicht dulden, wenn im Physikun­ter­richt Gesellschaft­stanz als Haupt­meth­ode der Ver­an­schaulichung von Elek­tro­nenkon­stel­la­tio­nen Einzug hal­ten würde oder Pudel­frisur­mod­en fast alles wären, was die Biolo­gie zum The­ma »Tiere« in die Öffentlichkeit tra­gen könnte.

    Insofern ist Ihr Blog wahre und drin­gend notwendi­ge Pio­nier­ar­beit. Son­st kön­nte näm­lich auch die (all­ge­meine) Sprach­wis­senschaft als eigen­ständi­ge Diszi­plin unterge­hen, weil ihr Sinn nicht ver­standen wird — so geschehen ger­ade an der Uni­ver­sität Osnabrück, wo jet­zt allerd­ings die lin­guis­tis­chen Teile ander­er Diszi­plinen beherzt in die Bresche springen.

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  4. M. Mann

    Solche Blog-Kom­mentare sind ja dur­chaus ein Ort, an dem man auch nicht hun­dert­prozentig durch­dacht­es zum besten geben kann, deshalb möchte ich auch ein bißchen über die mögliche oder unmögliche Syn­these aus “deskrip­tiv” und “präskrip­tiv” spintisieren.

    Rel­a­tiv klar ist bes­timmt die Unter­schei­dung in Hin­blick auf die wis­senschaftliche Methodik (wenn man so etwas beim Präskrip­tivis­mus über­haupt sagen kann). Aber der Unter­schied zwis­chen dem Beschreiben und dem Vorschreiben ist ja an ander­er Stelle schon deut­lich ver­schwommen­er. Gram­matikhand­büch­er und Wörter­büch­er, die mit deskrip­tivem Selb­stver­ständ­nis erstellt wur­den, wer­den in den Hän­den der (viel­er) Nach­schla­gen­den dann eben doch zur Autorität: Das ist falsch, weil das ste­ht so nicht in Wörter­buch oder Gram­matik (mit­tler­weile tut es das ja). Aber man muß ja nicht ein­mal irgend­wo nach­schla­gen: Kon­ven­tion­al­isierte soziale Sprach­nor­men bes­tim­men, seien wir uns dessen bewußt oder nicht, einen großen Teil dessen, was wir von uns geben. Die Gesellschaft, von der wir ein Teil sind, schreibt uns somit dur­chaus vor, wie wir zu reden haben. Und wie haben wir zu reden? Richtig ist das, was alle sagen wür­den; was wir so (in ein­er ver­gle­ich­baren Sit­u­a­tion) schon gehört haben o.ä. — also ziem­lich “deskrip­tiv”, wenn man so will. 

    Und das ist doch auch für die Sprach­wis­senschaft inter­es­sant. Kann man erk­lären, warum wir aus dem “Sys­tem der Möglichkeit­en” ger­ade diese oder jene Kon­struk­tion wählen? Warum sich eine neue Kon­struk­tion durch­set­zt, eine andere aber nicht? Läßt sich daraus etwas für den Schul- und Spra­chunter­richt gewinnen?

    Wie gesagt, präskrip­tives Denken hat in der Wis­senschaft (wenig bis) nichts zu suchen. Und bei den meis­ten Sprach­nör­glern dürfte Hopfen und Malz ver­loren sein. Aber die Sprach­wis­senschaft ist wahrschein­lich auch nicht gut berat­en, sich in ihren Elfen­bein­turm zurück­zuziehen und das offen­sichtliche Bedürf­nis viel­er nach Rat oder Vorschriften in Sprach­fra­gen vor der Tür zu lassen. Dort, wo mit Sprache prak­tisch gear­beit­et wird, hat sich ja in gewiss­er Weise schon eine Syn­these aus deskrip­tiv­er Methodik und präskrip­tiv­en Ansätzen her­aus­ge­bildet — etwa, wenn in Wörter­büch­ern Angaben zur Ver­wen­dung wie “sel­ten” gegeben wer­den und dem Benutzer dadurch sig­nal­isiert wird: Wenn Du so reden willst, wie das alle tun, dann soll­test Du bess­er ein anderes Wort benutzen; wenn Du aber stilis­tisch auf­fall­en willst, wäre dieses Wort eine Möglichkeit.

    Aber damit erst ein­mal genug für diese frühen Stunden.

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  5. gyokusai

    Klasse. Als langjähriger Afi­ciona­do der monatlichen Chica­go Q&A und des Lan­guage Logs (und ins­beson­dere der Beiträge Geoff Pul­lums) hätte ich nicht zu hof­fen gewagt, daß sich irgend­wann ein so erhel­len­des wie erheit­ern­des akademis­ches Blog wider die Sprach­nör­glerey zur deutschen Sprache find­et, samt wohlwol­len­der Leserschaft!

    Das gibt Hoff­nung. (NOMA, LOL!) (Syn­these, ROFL!)

    ^_^J.

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  6. David Konietzko

    Theleprompt hat geschrieben: “In der Rechtschreibre­for­mde­bat­te ist spätestens mit dem Ausstieg des einzi­gen Sprach­wis­senschaftlers Peter Eisen­berg aus der Reformkom­mis­sion das Licht der Lin­guis­tik erloschen.”

    Was meinen Sie mit “Reformkom­mis­sion”? Eisen­berg ist aus der Zwis­chen­staatlichen Kom­mis­sion für Rechtschrei­bung aus­ge­treten, aber andere Sprach­wis­senschaftler (z.B. Ger­hard Augst und Peter Gall­mann) sind geblieben. Eisen­berg ist bis heute Mit­glied des Rates für deutsche Rechtschrei­bung (der Nach­fol­ge­in­sti­tu­tion der Zwis­chen­staatlichen Kom­mis­sion), eben­so mehrere andere Linguisten.

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  7. Thomas Müller

    @M.Mann

    Die Sprach­wis­senschaft sitzt mit­nicht­en im Elfen­bein­turm, wenn sie sich an der Fes­tle­gung von Regeln nicht beteiligt. Sie ist dafür ein­fach die falsche Disziplin.

    Ich würde dafür plädieren, solche Fra­gen als let­ztlich ethis­che Fra­gen zu betra­cht­en. Denn wir wollen uns ja nicht zum Spaß an irgendwelche Sprachregeln hal­ten, son­dern um der funk­tion­ieren­den Kom­mu­nika­tion willen — aus diesem Grunde erwarten wir das Ein­hal­ten der Regeln auch von anderen, die mit uns kom­mu­nizieren wollen. Mit ein­er entsprechen­den Ethik ließe sich dann etwa argu­men­tieren, daß jemand, der schreibt, wie er will, unmoralisch han­dle. Wer moralisch han­deln will, muß sich an die all­ge­mein, von der Mehrheit oder von der rel­e­van­ten Sprecher­gruppe akzep­tierten Regeln halten.

    Die Sprach­wis­senschaft kann nur als Grund­lage ver­wen­det wer­den. Und die Pas­sivkon­struk­tion ist wichtig, denn wenn Lin­guis­tik nur zu diesem Zwecke betrieben würde, läge die Gefahr der Ide­ol­o­gisierung gefährlich nahe.

    Adäquate Sprachregeln sind ein Ergeb­nis, das mith­il­fe lin­guis­tis­ch­er Meth­o­d­en gewon­nen wer­den kann, aber das let­z­tendlich Pos­tulieren dieser Regeln gehört zur Ethik, niemals zur Sprach­wis­senschaft. “Syn­these” ist daher mMn ein völ­lig unpassender Begriff.

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  8. fellow passenger

    Spon­tan würde ich mich ja eher zu den kul­turpes­simistis­chen Sprach­nör­glern zählen, schon weil ich mich nie wis­senschaftlich mit ein­er Sprache auseinan­der geset­zt habe, aber trotz­dem immer wieder For­mulierun­gen hin­ter­frage, die mir unsin­nig vorkommen.

    Im Grunde ärg­ere ich mich aber vor allem darüber, daß es mir fast nie gelingt, Texte ohne sprach­liche Fehler zu verfassen.

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  9. M. Mann

    @Thomas Müller:

    Ich plädiere nicht für das “Fes­tle­gen von Regeln”, und schon gar nicht seit­ens der Sprachwissenschaft.

    Aber die Sprach­wis­senschaftler sind nun mal diejeni­gen, die sich am besten mit dem Sprach­sys­tem und dem Sprachge­brauch ausken­nen (soll­ten). Wenn also jemand eine Frage hat, ob eine bes­timmte For­mulierung geläu­fig ist, ein Wort eine bes­timmte Kon­no­ta­tion hat, eine syn­tak­tis­che Kon­struk­tion als markiert emp­fun­den wird etc. — soll­ten nicht auch die Sprach­wis­senschaftler hier­auf eine Antwort geben, oder soll­ten sie das Feld den “Sprach­nör­glern” räumen?

    Alles andere wäre doch, als würde man etwa Gestal­tung und Inhalt der in der Diskus­sion befind­lichen Ernährung­sh­in­weise auf Lebens­mit­teln (“Ampel”) den Lebens­mit­telkonz­er­nen über­lassen, während Lebens­mit­tel­chemik­er und andere Ernährungswis­senschaftler sich zwar ihre Gedanken macht­en, sich aber außer­halb von speziellen Blogs oder Fachzeitschriften nicht dazu äußerten. Oder als würde man ein Gesetz ver­ab­schieden, nach­dem man vorher die Lob­by­is­ten, nicht aber unab­hängige Fach­wis­senschaftler ange­hört hat. Die Ver­gle­iche mögen an der einen oder anderen Stelle hinken, aber die (dur­chaus sehr ethis­che) Entschei­dung über Regeln, die Fol­gen für den Sprachge­brauch der ganzen Sprachge­mein­schaft haben, auss­chließlich in den Bere­ich der Ethik zu schieben (wer soll dann über­haupt dafür zuständig sein? die Poli­tik? eine Ethikkom­mis­sion?) und die Sprach­wis­senschaft voll­ständig außen vor zu lassen, halte ich doch für zu kurz gegrif­f­en. (Es erin­nert mich ein bißchen an einen Kom­men­tar eines Bekan­nten von mir, einem Sozi­olo­gen, der meinte, der Unter­suchungs­ge­gen­stand der Sozi­olin­guis­tik sei nicht lin­guis­tisch son­dern nur sozi­ol­o­gisch — ich mußte natür­lich auch hier widersprechen.)

    Um meinen früheren Kom­men­tar und damit vielle­icht auch die Kri­tik daran etwas zu entschär­fen: Vielle­icht habe ich eine weit­ere Auf­fas­sung von “Rat oder Vorschriften” (wie ich das genan­nt habe), als das den Anschein gemacht hat. Ich meine, wie gesagt, nicht, daß die Sprach­wis­senschaft ein festes Regel­w­erk, sozusagen ein Geset­zbuch der Sprache auf­stellen solle (nach meinen Aus­flü­gen — nicht nur — in die Com­put­er­lin­guis­tik bin ich der Auf­fas­sung, daß das gar nicht geht). Aber “Vorschriften” im weitesten Sinne sind eben schon etwa das (Unter-)bewußtsein der Griceschen Kon­ver­sa­tion­s­maxi­men (Stich­wort “funk­tion­ierende Kom­mu­nika­tion”) oder das Entste­hen von Nor­men aus Kon­ven­tio­nen, wie es etwa Coseriu beschrieben hat. Und es gehört, nicht nur aber auch, in den Bere­ich der Sprach­wis­senschaft, sich mit solchen Maxi­men, Nor­men, Kon­ven­tio­nen zu beschäfti­gen — und mein­er Mei­n­ung nach auch, Rat zu geben, wenn jemand unsich­er ist, was diese Nor­men angeht.

    De fac­to ist es ja dur­chaus so, daß Sprach­wis­senschaftler an Gram­matiken und Wörter­büch­ern mitar­beit­en oder sie eigen­händig erstellen — das ist nicht ganz so “präskrip­tiv” wie zu sagen: “das Wort Airbag ist böse und muß duch Prall­sack erset­zt wer­den”, aber diese Werke enthal­ten eben auch Ratschläge für die nach­schla­gen­den Benutzer. Und Sprach­wis­senschaftler kön­nten mein­er Ansicht nach dur­chaus sagen: “Wer Fremd­wörter benutzt, sollte darauf acht­en, daß sie von der Ziel­gruppe ver­standen (und evtl. auch akzep­tiert) wer­den”. Das gehört eigentlich zum gesun­den Men­schen­ver­stand, aber manch­mal muß so etwas eben auch gesagt werden.

    Schließlich gehört es etwa auch zur Auf­gabe der Sprach­wis­senschaftler, den Deutschlehrern Entschei­dung­shil­fen zu geben, welche sprach­lichen Phänomene (noch) als stilis­tisch markiert (am Hef­trand ein rotes “A”) oder mit­tler­weile als stan­dard­sprach­lich gel­ten. Diese Entschei­dung­shil­fen müssen natür­lich den Sprachge­brauch als Grund­lage haben.

    Und diese Weit­er­führung der unvor­ein­genomme­nen Beobach­tung des Sprachge­brauchs (das deskrip­tive Ele­ment) hin zu einem darauf basieren­den Rat an Hil­fe­suchende (das im weitesten Sinne präskrip­tive Ele­ment) habe ich hier mit aller Vor­sicht als Syn­these dieser bei­den Ansätze bezeichnet.

    Ich würde nicht so weit gehen, jeman­den, der schreibt, wie er will, als unmoralisch zu beze­ich­nen. Unmoralisch ist, wer durch sprach­liche Ver­schleierun­gen etwas vortäuscht. Die anderen sind im besten Falle kreativ, im schlechteren Falle wer­den ihre Anliegen nicht ernst genom­men (da oft kor­rek­te Orthogra­phie oder Gram­matik noch vor der inhaltlichen Prob­lematik rangieren).

    Wenn es darum geht, tat­säch­liche Regeln vorzuschreiben, wie etwa bei der Rechtschreibregelung, sind sicher­lich auch Sprach­wis­senschaftler gefragt — aber nicht nur, soweit gebe ich Ihnen natür­lich recht. Wäre es rein nach den Sprach­wis­senschaftlern gegan­gen, hätte es wohl den Ver­such gegeben, auch in Deutsch­land die Klein­schrei­bung einzuführen — ohne Rück­sicht auf das bish­erige “schriftliche Leben” der Gesellschaft, also rel­a­tiv “unethisch”. Aber dies ist eine sehr enge Auf­fas­sung von sprach­lichen “Regeln”, die ich bei meinem Kom­men­tar nicht im Sinne hat­te. Ich denke, unsere Auf­fas­sun­gen sind gar nicht so weit ent­fer­nt. Trotz­dem darf mir natür­lich auch weit­er­hin gerne wider­sprochen werden …

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  10. Marta

    Sind Sie sich denn sich­er, zu wem SIE gehören? Nör­gler oder Wis­senschaftler? Vorschreibend oder beschreibend? 😉 Unter präskrip­tiv­en Ansätzen ver­ste­he ich nicht unbe­d­ingt gle­ich ‘Unter­drück­ung’ son­dern auch Ele­mente wie Nor­mung und Gram­matikun­ter­richt, der nicht gle­ich alle Ver­wen­dungs­for­men (u.a. Slang etc.) beib­rin­gen will. 

    Wenn man an einem Tisch sitzt und dazu kommt über ver­schiedene Per­spek­tiv­en eines Gegen­standes bzw. ein­er Idee zu reden, muss man nicht gle­ich eine Frieden­spfeife rauchen und die rosarote Brille auspacken.

    Dass es Men­schen gibt, die sich aus poli­tis­chen (und anderen, nur nicht sprach­wis­senschaftlichen Grün­den) in diese The­matik ein­mis­chen, ist mir dur­chaus bewusst. Es gibt doch über­all Leute, die mitre­den, mit­mis­chen wollen, obwohl sie nicht viel von der Materie ver­ste­hen. Es ist ihr Blog, unqual­i­fizierte Kom­mentare, die sich im Ton ver­greifen, kann man immer löschen.

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  11. Anatol Stefanowitsch

    Mar­ta (#11), ich bin Wis­senschaftler und Sprach­nör­gler-Nör­gler. Sprach­nor­mung und präskrip­tiv­er Gram­matikun­ter­richt kön­nen zwar von den Ergeb­nis­sen der Sprach­wis­senschaft prof­i­tieren (wenn sie wollen) aber sie sind selb­st keine Sprach­wis­senschaft (sie sind lin­guis­tis­che Land­schafts­gärt­nerei). Dabei kann Gram­matikun­ter­richt dur­chaus von einem wis­senschaftlichen (also deskrip­tiv­en, um Ver­ste­hen bemüht­en) Geist durch­drun­gen sein sein, und so ein Gram­matikun­ter­richt ist mir der liebere (ich empfehle in diesem Zusam­men­hang ein­mal Franziska Schröders Blog thoitsch, das so gar nicht präskrip­tiv daherkommt (und außer­dem liebevoll mit meinen fälschlicher­weise ver­achteten Geburt­sort Berlin-Neukölln umgeht).

    In der Tat muss man sich nicht in allem einig sein, um an einem Tisch zu sitzen — man kann dur­chaus unter­schiedliche Per­spek­tiv­en haben, aber man muss einen gemein­samen Ref­eren­zrah­men haben. Den haben Sick und die Sprach­wis­senschaftler nicht. In viel­er­lei Hin­sicht erin­nert mich das Ver­hält­nis zwis­chen Präskrip­tivis­ten und Sprach­wis­senschaftlern an das zwis­chen Kreation­is­ten und Biolo­gen — natür­lich kön­nten die sich an einen Tisch set­zen, aber das wäre für die Kreation­is­ten exis­tenzbedro­hend und für die Biolo­gen sterbenslangweilig. 

    Und unqual­i­fizierte Kom­mentare oder solche, die sich im Ton ver­greifen, lösche ich grund­sät­zlich nicht, solange sie keine poten­ziell straf­baren Äußerun­gen enthal­ten. Es wäre ein lang­weiliges Blog, wenn ich das täte, und Langeweile has­se ich noch mehr, als Sprachnörgelei.

    Ich wollte Sie übri­gens nicht per­sön­lich angreifen, ich habe Ihren Kom­men­tar her­aus­ge­grif­f­en, weil er eine kon­tro­verse Mei­n­ung vertreten hat (ganz, ohne sich im Ton zu ver­greifen). Ihre Per­spek­tive auf Sprache und Sprachen ist hier eben­so wilkom­men, wie meine eigene!

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  12. Thomas

    Hal­li Hallo,

    erst­mal schöne Grüße an euch alle. Mein Name ist Thomas Bey­er und ich bin Redak­teur ein­er Web­seite die sich mit den Ein­stel­lung­stests beschäftigt. Auf mein­er suche nach kon­tro­ver­sen Ansicht­en zum The­ma Rechtschrei­bung bin ich auf diesen tollen Blog gekom­men. Viele Fir­men testen ger­ade die Schüler nach der neuen deutschen Rechtschrei­bung. Die durch­fall­squote ist recht hoch in diesem Bere­ich. Wer einen Ein­stel­lung­stest zum The­ma Rechtschrei­bung http://www.einstellungstest-fragen.de/einstellungstest-rechtschreibung/ gemacht hat, der weiß von was ich spreche. 

    @fellowpassenger Was meinst Du mit kul­turpes­simistis­chen Sprach­nör­glern? So würde ich aber auch nicht alle in einem Boot werfen. 

    Schöne Grüße

    Thomas Bey­er

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  13. D.A.

    Eben ent­deckt: Wenn man nach “Sprach­nör­gler” googelt, erhält man als acht­en Tre­f­fer — die Start­seite des VDS! Gibts dafür eine tech­nis­che Erk­lärung, oder darf ich das etwa als ersten Schritt zur Selb­sterken­nt­nis seit­ens des Vere­ins verstehen?

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  14. Googlist

    @D.A.: die Erk­lärung ist tech­nisch, sagt aber etwas aus: Google wertet die Web­seit­en u.a. nach der Anzahl der zu ihnen weisenden Links. Außder­dem wer­den die Worte die als Text in dem Link zu lesen sind (also vom Ver­weisenden und nicht vom Autor der Ziel­seite geschrieben wer­den) als Such­be­griffe der Seite zugeordnet.

    Ihre Beobach­tung belegt v.a. daß die öffentliche Wahrnehmung des VDS nicht seinem Selb­stver­ständ­nis entspricht. Unter PR-Gesicht­spunk­ten ist so ein Google-Ergeb­nis eine Katastrophe. 

    (Ähn­lich­es gab es vor Jahren mit G. W. Bush und “mis­er­able fail­ure”, allerd­ings ent­stand dies auf­grund ein­er riesi­gen Welle poli­tis­ch­er Frustration.)

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  15. D.A.

    Ah, danke für die Aufk­lärung. So etwas Ähn­lich­es hat­te ich ver­mutet. Jet­zt weiß ich auch endlich, was mir der Hin­weis “Diese Begriffe erscheinen nur in Links, die auf diese Seite ver­weisen” im Google Cache View sagen will …

    Wann immer ich also das Bedürf­nis ver­spüren sollte, die Seite des VDS zu besuchen (das Forum ist ja zumin­d­est ganz inter­es­sant), werde ich das ab sofort über die Google-Suche “Sprach­nör­gler” tun — daraus kön­nen sie ja dann ihre Schlüsse ziehen. (Mit­tler­weile ist die VDS-Seite übri­gens schon der siebte Treffer …)

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  16. David Marjanović

    Ach ja, übrigens…

    Ach ja, hat irgend­je­mand wirk­lich ein Prob­lem mit Her­rn Sick? Der Mann bringt Stammtis­chnör­gler, Deutschlehrer, besorgte Eltern, Schöngeis­ter und Sprach­wis­senschaftler an einen Tisch. Mich sorgt das über­haupt nicht.

    Ich nehme jet­zt ein­fach ein­mal an, dass man irgend­wo in Deutsch­land tat­säch­lich “das sorgt mich” sagt. (Ist mir noch nie untergekom­men. Sorge selb­st ist für mich ein rein lit­er­arisches Wort.) Aber falls Herr Sick das nicht weiß, wird er es sofort für eine Lehnüber­set­zung von “that wor­ries me” hal­ten und daher ver­bi­eten… wie ist das, wenn es einen selb­st trifft?

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  17. Thomas

    Und wie ist das mit den Worten “schein­bar” oder “anscheinend”? Hat dieser so genan­nte Herr Sick hier­für auch eine Lösung parat? Ich denke dass die Entwick­lung der deutschen Rechtschrei­bung nicht das Resul­tat einiger Her­rn hin­ter den Schreibtis­chen sein wird. Es ist eher anzunehmen dass die kul­turelle Entwick­lung und die damit ver­bun­dene Sprache den eige­nen Weg gehen wer­den. Die Her­ren hin­ter den Schreibtis­chen müssen sich dem beu­gen. Es ist wie die Evolution…

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  18. Angelika

    Rel­a­tiv klar ist bes­timmt die Unter­schei­dung in Hin­blick auf die wis­senschaftliche Methodik (wenn man so etwas beim Präskrip­tivis­mus über­haupt sagen kann). Aber der Unter­schied zwis­chen dem Beschreiben und dem Vorschreiben ist ja an ander­er Stelle schon deut­lich ver­schwommen­er. Gram­matikhand­büch­er und Wörter­büch­er, die mit deskrip­tivem Selb­stver­ständ­nis erstellt wur­den, wer­den in den Hän­den der (viel­er) Nach­schla­gen­den dann eben doch zur Autorität: Das ist falsch, weil das ste­ht so nicht in Wörter­buch oder Gram­matik (mit­tler­weile tut es das ja). Aber man muß ja nicht ein­mal irgend­wo nach­schla­gen: Kon­ven­tion­al­isierte soziale Sprach­nor­men bes­tim­men, seien wir uns dessen bewußt oder nicht, einen großen Teil dessen, was wir von uns geben.

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