Aktionäre, ans Telefon!

Von Anatol Stefanowitsch

Die vier Sprachau­toritäten von der Aktion Lebendi­ges Deutsch tra­gen mit ihren messer­schar­fen Wortschatzbe­darf­s­analy­sen und stil­sicheren Neube­wor­tun­gen über­flüs­siger Lehn­wörter seit vie­len Jahren dazu bei, die deutsche Sprache vor dem sicheren Nieder­gang zu bewahren. Ohne ihren uner­müdlichen Ein­satz wäre das Deutsche längst voll­ständig durch das Englis­che ver­drängt wor­den, oder noch schlim­mer, auf das Niveau eines Bana­nen­händler­pid­gins gesunken.

Genau rechtzeit­ig zum Anpfiff der Fußball-Europameis­ter­schaft haben die vier find­i­gen Wort­füchse nun eine passende, klangvolle und ele­gante Alter­na­tive zu dem lächer­lichen Anglizis­mus Pub­lic View­ing gefun­den, der im englis­chen eine öffentliche Leichen­schau beze­ich­net. Fußbal­lki­no lautet der pfif­fige und tre­f­f­ge­naue Vorschlag, den ich ab sofort ver­wen­den werde, wenn ich unseren Jungs auf der Fan­meile — par­don, den 1,6 Bewun­der­erk­ilo­me­tern — die Dau­men drücke.

Wie? Die EM ist schon seit ein­er Woche vor­bei? Haben wir gewon­nen? Die Spanier? Kön­nen die sowas? Wo deren Sprache doch nur eine verkommene Abart des klas­sis­chen Latein ist! Was? Pub­lic View­ing bedeutet gar nicht „Leichen­schau“? Wir braucht­en gar kein neues Wort dafür? Dann ist die Arbeit der Aktionäre völ­lig umson­st? Über­flüs­sig, sog­ar? Ja, dann weiß ich auch nicht weit­er. Worüber soll ich denn dann schreiben?

Gut, ich muss dann wohl auf den Boden der Tat­sachen zurück­kom­men und fest­stellen, dass die Aktionäre ihrer üblichen Strate­gie treu geblieben sind. Ohne Not haben sie eine zweck­freie Alter­na­tive für einen Begriff geschaf­fen, den auf abse­hbare Zeit ohne­hin nie­mand mehr braucht.

Wieder ein­mal haben sie ihre ange­bliche Liebe für die deutsche Sprache dadurch gezeigt, dass sie sich über ein kul­turelles Phänomen lustig machen, das sie nicht ver­ste­hen und das sie deshalb natür­lich auch nicht gutheißen können:

Fußbal­lki­no“ haben wir gese­hen, nur aus­nahm­sweise noch „pub­lic geviewt“ — darin waren sich mehrere Fernsehsender einig, und die Akton „Lebendi­ges Deutsch“ hat aus 1197 Vorschlä­gen eben­falls diesen aus­gewählt. (Auch „Kick-Blick“, „Glotz­par­ty“ und „Pub­lic Sauf­ing“ befan­den sich darunter.)

Fußbal­lki­no? Gut, es stimmt schon — die öffentliche Über­tra­gung eines Fußball­spiels erin­nert tat­säch­lich stark an einen Kinobe­such. Wenn man sie im Geiste in einen kleinen Saal ver­legt. Und wenn man sich vorstellt, dass man dabei auf gepol­sterten Klappses­seln säße. Und, wenn man sich die Fußball­fans und die Deutsch­land­flaggen weg­denkt. Und natür­lich, wenn statt eines Fußball­spiels ein Film gezeigt würde.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

13 Gedanken zu „Aktionäre, ans Telefon!

  1. Anatol Stefanowitsch

    Schließlich gibt es bere­its seit langem Freilichtkinos.“

    Und die genau die Tat­sache, dass man Freilicht extra dazu sagen muss, zeigt, dass Kinovor­führun­gen typ­is­cher­weise drin­nen stattfinden.

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  2. Jan Wohlgemuth

    Müssten die Aktionäre dann nicht kon­se­quenter­weise auch Kino durch Licht­spiel erset­zen (wollen)?

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  3. Andreas H.

    Oh Gott, es geht sog­ar noch weit­er. Als näch­stes suchen sie ein Wort für “chillen”; dabei ste­ht schon in LEO die deutsche Über­set­zung: “relax­en”.

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  4. Andreas H.

    Klein­er Nachtrag:

    Zitat von der Heim­seite ‘Aktion lebendi­ges Deutsch’:

    Wir soll­ten aufhören, uns für die deutsche Sprache zu genieren.”

    Nun denn: Im August sucht mal spon­tan ein deutsches Wort für ‘genieren’.

    Tja, das bringt euch in Ver­legen­heit, wie? Schämt euch!

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  5. miss sophie

    Fußbal­lki­no hat ja tat­sache was für sich — von der metapho­rischen Per­spek­tive aus gesehen. 

    Pub­lic view­ing hat­te schon zu Zeit­en der WM nicht nur was mit draußen guck­en zu tun. Dazu gab es, auch jet­zt wieder, ein­fach zu viele Kneipen, in denen sich die Massen ver­sam­melten. Pub­lic view­ing ist in meinem Umfeld mehr die Beze­ich­nung für nicht zu Hause, son­dern in ein­er öffentlichen Lokalität guck­en. Und an dieser Stelle über­lagert sich das Seh-Erleb­nis mit dem des Films. Bunte Bilder wer­den auf eine Lein­wand pro­jiziert und davor sitzen mehrere Men­schen, die nur grüp­pchen­weise miteinan­der zu tun haben. 

    Fußbal­lki­no ist auch irgend­wie niedlich. Es lässt sich mit dem Schuss Ironie sagen, der so vie­len unser­er Sprüche beiwohnt.

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  6. Tillman Graach

    Ein klein­er Ein­wand: worin unter­schei­det sich das Beste­hen darauf, dass “Kino” an einen dun­klen Saal mit gepol­sterten Klappses­seln gebun­den zu sein hat, struk­turell von sprach­nör­g­lerischen Ver­wen­dungsver­boten und Bedeutungsvorschriften?

    Kino” ist in der Regel ein geschlossen­er Raum, das ist richtig. Für 

    Fußbal­lki­no” gilt das eben nicht. Meis­tens. (Aus­geschlossen ist das aber nicht, wie Miss Sophie richtig ange­merkt hat.) Und wenn man als wesentlich­es Merk­mal für “Kino” bespiel­sweise “Anwe­sende schauen auf eine Lein­wand, auf die ein für die Zuschauer inter­es­santes Geschehen pro­jiziert wird” anset­zt, passt das mit dem “Fußbal­lki­no” dann eben doch wieder.

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  7. Wi-pie

    Durch den Radiosender eins live des WDR wurde “Rudel­guck­en” ver­bre­it­et. Eigentlich ganz nett, fühlt man sich doch wirk­lich so, wenn man in der Masse sitzt/steht und anfängt zu jubeln, weil alle jubeln, auch wenn man ger­ade gar nicht gese­hen hat, was über­haupt passiert ist.

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  8. ramses101

    Die Ver­fil­mung von Nick Horn­bys “Fever Pitch” ist ganz großes Fußbal­lki­no. Das heißt dann auf englisch aber nicht mehr “pub­lic view­ing”, son­dern eher “foot­ball movie.” Ver­rück­te Welt 😉

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  9. buchstaeblich

    Also ich mag die Aktion Lebendi­ges Deutsch!

    Manch­mal — wenn mir so richtig lang­weilig ist — stöbere ich heim­lich in deren Inter­ne­tauftritt umher und kann mitunter brüllen vor Lachen.

    Aber sagen Sie denen das bitte nicht weit­er, son­st kom­men die bes­timmt bei mir vor­bei und hauen mich: Das darf also kein­er wissen.

    😉

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