Glossen

Von Anatol Stefanowitsch

Wenn ich bei mein­er wöchentlichen Suche nach Sprach­blog­barem auf eine „Glosse“ stoße, weiß ich, dass ich mit großer Wahrschein­lichkeit einen dick­en Fisch am Hak­en habe. Definiert ist das Wort Glosse ja eigentlich als „kurz­er, spöt­tis­ch­er Artikel (in der Zeitung)“ (so das Ber­tels­mann-Wörter­buch), aber mein­er Erfahrung nach bedeutet es eher so etwas wie „unin­formiertes, schlecht abgeschriebenes und selb­st­ge­fäl­liges Geschwätz (in der Zeitung)“.

So auch in ein­er Glosse, die ich dieser Tage auf auto.de ent­deckt habe. Ein nur durch sein Kürzel (ar/Sm) und ein Foto iden­ti­fizier­bar­er, mir aber nicht bekan­nter Glos­sist lässt sich darin über die Sprache im All­ge­meinen und ihren Ver­fall im Beson­deren aus und schafft es dabei, so fehlin­formiert und irrel­e­vant daherzuschwafeln, dass Bas­t­ian Sick dage­gen wie Noam Chom­sky wirkt. ar/Sm begin­nt mit einem Phänomen, das mir bis­lang als Objekt sprach­nör­g­lerischem Fed­er­spreizens unbekan­nt war:

Stellen Sie sich das ein­mal vor: Ein Jahr lang umson­st tanken. Ein per­sön­lich­es Dra­ma wäre das, wenn man nach einem Jahr mit der Zapf­pis­tole in der Hand fest­stellt, dass alles verge­blich war. Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Ver­lag, der damit zur Zeit im Fernse­hen wirbt, viele lock­en kann, es sei denn, er meint, der Gewin­ner könne für die Dauer eines Jahres sein Auto immer wieder auf­tanken — kosten­los und eben nicht umsonst.

Ja, der gute alte Kosten­los-Umson­st-Kalauer. Dass der inzwis­chen Gegen­stand der Sprachkri­tik ist, ist mir neu. Wie jed­er deutsche Mut­ter­sprach­ler weiß, hat das Wort umson­st drei Bedeutungen: 

um|sonst [Adv.] 1 unent­geltlich, kosten­los; etwas u. bekom­men 2 verge­blich; u. warten 3 nicht ohne Grund; er ist nicht u. Psy­chologe [Ber­tels­mann-Wörter­buch]

Mit Mehrdeutigkeit kann der Sprach­nör­gler ja gemein­hin nicht gut umge­hen, aber glaubt ar/Sm wirk­lich, dass irgend­je­mand hier in der echt­en Welt in diesem Kon­text auf eine der unpassenden Bedeu­tun­gen von umson­st kom­men könnte?

Er wen­det sich dann dem Brauch der Grat­u­la­tion zu:

Zu einem solchen Gewinn möchte man dann grat­ulieren. Aber wahrschein­lich wird dem Glück­lichen bei der Über­gabe der Gutschein mit einem „her­zlichem Glück­wun­sch“ über­re­icht. Dabei hat er ja ger­ade großes Glück erfahren. Da muss man ihm ja nicht sofort noch mehr wün­schen. Aber grat­ulieren kön­nte man ihm.

Die Logik hier muss wohl sein, dass ar/Sm jeman­dem „grat­uliert“, wenn der eine Leis­tung erbracht hat, und ihm einen „her­zlichen Glück­wun­sch“ nur dann ausspricht, wenn er ihm Glück für die Zukun­ft wün­scht. Damit hat er den all­ge­mein akzep­tierten Sprachge­brauch gegen sich — Grat­u­la­tio­nen und Glück­wün­sche sind schon immer das­selbe gewe­sen. Glück für die Zukun­ft wün­scht man dage­gen mit der Redewen­dung Viel Glück. Viel Glück bei dein­er Prü­fung mor­gen ist nor­males Deutsch, Her­zlichen Glück­wun­sch zu deinen Prü­fung mor­gen würde sug­gerieren, dass der Sprech­er in die Zukun­ft sehen kann.

Ich weiß nicht, ob der ver­meintliche Unter­schied zwis­chen Glück­wun­sch und Grat­u­la­tion zum Stan­dard­reper­toire der Sprach­nör­gler gehört, aber Die Welt ist eine GoogleTM, und nach etwas Suchen habe ich diese etwas schrul­lige aber irgend­wie sym­pa­this­che Abhand­lung gefun­den, deren Autor das gesamte Sys­tem deutsch­er Gruß­formeln reformieren möchte.

Dann wagt sich ar/Sm an den son­st von Sprach­hütern gerne gemiede­nen Bere­ich der Gram­matik her­an, allerd­ings mit ein­er erstaunlichen Behauptung:

Bei ander­er Gele­gen­heit beim Umgang mit Medi­en fällt auf, dass selb­st ser­iöse Insti­tute wie die Deutsche Presseagen­tur offen­bar bewusst Gram­matik schlab­bern. Seit Jahren haben sie die Vorver­gan­gen­heit umge­bracht und kön­nen sich max­i­mal bis zum Per­fekt, aber nicht zum Plusquam­per­fekt durchrin­gen. Das Sortieren der Ereignisse nach ihrem zeitlichen Ablauf und damit die Darstel­lung von Zusam­men­hän­gen bleiben so in Nachricht­en auf der Strecke.

Das ist zunächst fak­tisch falsch: das Plusquam­per­fekt ist in der Press­esprache quick­lebendig. Die fol­gen­den Beispiele habe ich inner­halb ein­er Minute in von Google News inner­halb von dreißig Minuten indizierten Mel­dun­gen gefunden:

  • Scha­ef­fler und Con­ti hat­ten am Mittwoch in dem seit Wochen andauern­den Über­nah­mekampf ihre Bere­itschaft zu ein­er friedlichen Eini­gung sig­nal­isiert (Gießen­er Allgemeine)
  • Zwar hat­ten die rus­sis­chen Trup­pen ver­gan­gene Woche Georgien im Süden – und nicht die EU im West­en – des Moskauer Erdgas-Zaren­re­ich­es ange­grif­f­en… (Wiener Zeitung)
  • Die Ana­lysten hat­ten für ihre Schätzun­gen unter anderem die US-Apple-Stores 25 Stun­den lang beobachtet und die Verkäufe gezählt. (Pas­sauer Neue Presse)
  • Ermit­tler hat­ten die Geschäfts- und Pri­va­träume des dama­li­gen Deutsche-Post-Chefs Klaus Zumwinkel durch­sucht… (Han­nover­sche Allgemeine)
  • Ehe­ma­lige Max­field-Mitar­beit­er hat­ten dage­gen schon früher behauptet, pri­vate Aus­gaben der Pooths seien von Max­field bezahlt wor­den. (Hei­den­heimer Neue Presse)
  • Medi­en hat­ten berichtet, er habe seine Mut­ter und Schwest­er in einem Luxu­shotel in Lon­don ange­grif­f­en. (Herten­er Allgemeine)
  • Volk­swirte hat­ten mit 62,0 Punk­ten gerech­net. (Reuters)
  • Anfang Feb­ru­ar hat­ten die Rebellen aus ihren Lagern im Sudan kom­mend die Haupt­stadt ange­grif­f­en und den Präsi­den­ten in seinem Palast umzin­gelt. (Zisch)

Zudem meine ich mich zu erin­nern, dass der weise alte Mann der sprach­lichen Ben­imm­regeln, Wolf Schnei­der, in „Deutsch für Profis“ ger­ade das Gegen­teil beklagt: zuviel Plusquam­per­fekt, das man lieber ver­mei­den sollte, weil es umständlich klingt. Ist das jet­zt der Anfang eines Tem­po­ralen Kalten Krieges unter Sprachnörglern?

Wo ar/Sm ohne­hin ger­ade die Agen­turen am Schlafittchen hat, ver­sucht er ihnen gle­ich noch ein sprach­lich­es Ver­brechen anzuhängen:

Dafür haben dieselbe Agen­tur in Verbindung mit vie­len Frei­willi­gen einen neuen Men­schen erschaf­fen: die Ret­tungskraft. Da vern­immt man in den Nachricht­en erstaunt, dass 120 Ret­tungskräfte einge­set­zt wor­den seien. Früher war der Begriff „Ret­tungskräfte“ ein­er, der als Summe alle Feuer­wehrleute, San­itäter, Notärzte, Helfer des THW und was son­st noch am Ort des Geschehens war umfasste, ein­er­lei wie viele Helfer dort waren.

Das Wort Ret­tungskraft ist sehr sel­ten, aber es existiert tat­säch­lich. Allerd­ings bezwei­fle ich, dass es die „Agen­turen“ erfun­den haben, son­st würde sich in Google News wohl wenig­stens ein Tre­f­fer (außer der Glosse selb­st) find­en. Mir gefällt diese Rück­bil­dung eigentlich ganz gut: so hat man eine Beze­ich­nung für ein einzelnes Mit­glied der Ret­tungskräfte, dass man ver­wen­den kann, wenn man nicht weiß, ob es sich um einen Polizis­ten, San­itäter oder Feuer­wehrmann handelt.

Dann kommt ar/Sm auf die Schuldigen zu sprechen, und das sind dann doch nicht seine Kol­le­gen in den Agen­turen — es ist die Jugend:

Vorschnell ist die Jugend mit dem Wort. Was soll’s. Schließlich läuft ger­ade die Olympiade — oder waren es die „olymp­is­chen Spiele“? Bevor mich nun jemand als ler­nun­willi­gen Oldie out­et, flüchte ich doch lieber für den Rest des Textes in deutsche Anglizis­men, werfe mein Handy in den Body­bag und begebe mich zum Pub­lic View­ing, wohl wis­send, dass diese Begriffe nur in Deutsch­land ver­standen wer­den, weil sie hier erfun­den wurden.

Ja, das Handy, der Body­bag und das Pub­lic View­ing. Gut, dass da endlich mal jemand drauf hin­weist! Und ar/Sm erk­lärt uns dann auch, wie’s richtig wäre:

Ein Handy ist eben kein Mobiltelefon […]

Doch, ist es.

[…] son­dern eine Einkauf­stüte oder ein Kom­pli­ment für eine „pflegele­ichte“ Person.

Wie bitte? In welch­er Sprache? Sich­er nicht im Englischen:

handy ˈhan-dē adjec­tive hand·i·er; hand·i·est (1650) 1 a: con­ve­nient­ly near b: con­ve­nient for use c of a ship : eas­i­ly han­dled 2: clever in using the hands espe­cial­ly in a vari­ety of use­ful ways [Mer­ri­am Webster]

handy adj reg.adv. (-ier, ‑iest) geschickt; han­dlich; nüt­zlich; zur Hand; come in handy sich als nüt­zlich erweisen; sehr gele­gen kom­men [Lan­gen­schei­dt]

Aber weit­er:

Der Body­bag ist der Leichen­sack, wie ihn die Armeen dieser Welt mit sich tragen.

Oder eine Trage­tasche.

Und das Pub­lic View­ing passt dazu. So nen­nt man das öffentliche Auf­bahren ein­er Leiche.

Äh, nein.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

14 Gedanken zu „Glossen

  1. P. Frasa

    […] dass Bas­t­ian Sick dage­gen wie Noam Chom­sky wirkt.”

    Hm, dabei haben die bei­den doch eigentlich so einiges gemein­sam. Bei­de behaupten seit Jahren Dinge, die längst wider­legt sind, sind nicht wirk­lich offen für sprach­liche Vielfalt (Bas­t­ian Sick ignori­ert die stilis­tis­che und regionale Vielfalt des Deutschen; Noah Chom­sky fast jede Sprache außer Englisch), und bei­de haben eine riesige Anhänger­schaft um sich geschart, die unre­flek­tiert alles übern­immt, was ihr Meis­ter ihnen vorsetzt.

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  2. David Konietzko

    Im neun­ten Duden­band (Richtiges und gutes Deutsch, 5. Auflage 2001) heißt es unter umson­st / vergebens:

    »Obwohl die Ver­wen­dung von umson­st im Sinn von vergebens gele­gentlich getadelt wird, ist gegen den schon im Mit­tel­hochdeutschen gebräuch­lichen Aus­tausch bei­der Wörter nichts einzuwenden.«

    Dem­nach ist die Auf­fas­sung des auto.de-Glos­sis­ten der üblicher­weise von ›Sprach­pflegern‹ vertrete­nen ger­ade entgegengesetzt.

    Wer Grat­u­la­tion sagt oder schreibt, set­zt sich der Gefahr aus, von einem ›Sprach­pfleger‹ für den Gebrauch eines über­flüs­si­gen Fremd­wortes getadelt zu wer­den, das sich leicht durch das schöne deutsche Wort Glück­wun­sch erset­zen lasse.

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  3. Mister Bernie

    Da hat wohl jemand den “Was ist der Unter­schied zwis­chen gratis und umsonst?”-Witz ein wenig zu wörtlich genom­men, und sich vor‑, diese böse böse Pol­y­semie auszumerzen. Das tut er wohl umson­st (harhar) .

    Und wegen Handy und der Einkauf­stüte, es find­en sich tat­säch­lich mehrere ‘handy bags’, aber das sind entwed­er ‘bags’, die in irgen­dein­er Form ‘handy’ sind, oder anscheinend ein Eigen­name für eine Son­der­form der Mülltüte. Da ist wohl das Google-fu von jeman­dem nicht allzu stark.

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  4. Wolfgang Hömig-Groß

    Am meis­ten hab ich über das TM hin­ter der Welt­google gelacht — cha­peau. Bin immer noch nicht fertig …

    Aber “Her­zlichen Glück­wun­sch zu deinen Prü­fung mor­gen” würde ich so ver­ste­hen, dass man dem Betr­e­f­fend­en zu sein­er uner­warteten Zulas­sung zur Prü­fung gratuliert.

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  5. buntklicker.de

    Pedan­ten­modus an: “umson­st […] 3 nicht ohne Grund; er ist nicht u. Psy­chologe [Ber­tels­mann-Wörter­buch]” — das ist Unsinn, vielmehr bedeutet erst die Kom­bi­na­tion “nicht umson­st” das pos­tulierte “nicht ohne Grund”.

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  6. Marc B.

    Das sprach­liche Chaos um Grat­u­la­tion und Glück­wün­sche ver­suche ich für mich zu ver­mei­den und ver­wende die Begriffe nach Möglichkeit entsprechend ihrer ursprünglichen Bedeu­tung. Aber es käme mir nie in den Sinn, dies anderen aufzuer­legen oder sie zu kritisieren.

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  7. Sabine

    Hut ab auch vor der ele­gan­ten Ver­linkung im Text. Der geneigte Sprach­blog-Leser lässt nur schnell dir Maus über dem Link schweben und sieht sich sogle­ich am Browser­rand and vorherige schöne Ein­träge erinnert. 

    Zum Glück ist Sprach­blog lesen umsonst.

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  8. Andreas H.

    Dann kann man einen Sol­dat­en auch als Stre­itkraft bezeichnen…

    Ich bin Zeitstreitkraft” 🙂

    Mich irri­tierte früher der Aus­druck “Mil­itär” als Sin­gu­lar (z.B. ein rang­ho­her Mil­itär sagte…), den ich nur als anderen Aus­ruck für z.B. die Stre­itkräfte kannte.

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  9. Patric Mueller

    Ich hätte jet­zt nicht gedacht, dass “Ret­tungskraft” erwäh­nenswert wäre.

    Gibt es doch massen­weise Worte, die auf “kraft” enden und Einzelper­so­n­en beze­ich­nen: Schreibkraft, Aushil­f­skraft, stu­den­tis­che Hil­f­skraft, bil­lige Arbeitskraft, …

    Man kön­nte natür­lich anmäkeln, dass all diese Worte einen ent­men­schel­nden Beigeschmack haben, aber wer bin ich denn, dass ich den Sprach­nör­glern noch ihre Arbeit erledige?

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  10. Chat Atkins

    Mein inneres Bild, sobald der Aus­druck ‘Glosse’ fällt: 

    Angesäusel­ter älter­er Herr erzählt gelang­weil­ter Tre­sen­schlampe, was für’n toller Hecht er doch sei …

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  11. Jan Wohlgemuth

    Schade, dass dem besser­wis­senden Glosse­nau­tor auch noch ent­gan­gen ist, dass die von ihm ange­führte Sportver­anstal­tung offiziell und eigentlich Spiele der XXIX. Olympiade genan­nt wird. Aber vielle­icht kann er ja das IOC davon überzeu­gen, dass das falsch ist… 😉

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