Zehn „Geheimnisse“ der deutschen Sprache

Von Anatol Stefanowitsch

Auf Bild Online sind dieser Tage unter der Über­schrift „Die 10 Geheimnisse der deutschen Sprache“ zehn nicht sehr geheime Wis­sens­brock­en über die deutsche Sprache erschienen. Beim Lesen der Über­schrift habe ich Vor­freude über die Dummheit­en ver­spürt, die da wohl ste­hen wür­den und die ich hier zerpflück­en kön­nte. Aber beson­ders ergiebig war die Sache dann doch nicht. Nur bei ein paar Details liegt die Bild-Redak­tion offen­sichtlich daneben, der Rest ist etwas unge­nau oder schw­er nachvol­lziehbar aber nicht ein­deutig falsch. Da ich mir die Arbeit aber nun ein­mal gemacht habe, will ich die Ergeb­nisse mein­er Über­prü­fung trotz­dem teilen.

1. 155 Mio. Men­schen sprechen weltweit Deutsch – Rang 9. (Nr. 1: Man­darin, 867,2 Mio).

Das ist großzügig geschätzt, kön­nte aber unge­fähr stim­men. Das Goethe-Insti­tut geht von weltweit 110 Mil­lio­nen Mut­ter­sprach­lern aus, zu denen 17 Mil­lio­nen Men­schen hinzukom­men, die derzeit (2005) Deutsch als Fremd­sprache ler­nen. Mir ist keine Sta­tis­tik darüber bekan­nt, wieviele nicht­deutsche Mut­ter­sprach­ler bere­its Deutsch sprechen, aber da die Zahlen der Deutschlern­er seit Jahren rück­läu­fig sind, wäre es nicht über­trieben, zu den 17 Mil­lio­nen noch ein­mal 20–30 Mil­lio­nen Sprech­er des Deutschen als Fremd­sprache hinzuzurech­nen. [Link: Goethe-Insti­tut]

2. Deutsch beste­ht aus rund 300 000 Wörtern.

Hier war die Bild-Zeitung eher kon­ser­v­a­tiv: laut Duden-Redak­tion liegt der Wortschatz des Deutschen zwis­chen 300 000 und 500 000 Wörtern [Link: Duden]. Auch das ist aber nur ger­at­en, denn die Frage „wieviele Wörter“ das Deutsche (oder irgen­deine andere Sprache) hat, lässt sich schlicht nicht beant­worten. Sprachen sind im ständi­gen Wan­del, neue Wörter kom­men hinzu, alte Wörter ver­schwinden. Es gibt keine Kri­te­rien dafür, ab wann ein Wort zu ein­er Sprache hinzugerech­net wer­den kann oder ab wann es als ver­schwun­den zählt. Hinzu kommt, dass unklar ist, wo die Gren­zen des Deutschen sind, ob etwa Dialek­twörter mit­gezählt wer­den. Schließlich ist unklar, was als „Wort“ zählt: zählen nur ein­fache Wörter, oder zählt man auch Kom­posi­ta mit?

Da die Antworten auf alle diese Fra­gen im Belieben desjeni­gen ste­hen, der die Wörter zählt, kom­men unter­schiedliche Sprachge­mein­schaften auf sehr unter­schiedliche Schätzun­gen ihres Wortschatzes. In der englis­chsprachi­gen Welt glaubt man gerne, dass das Englis­che den größten Wortschatz habe, und ver­weist dabei gerne auf das Oxford Eng­lish Dic­tio­nary, das über 500 000 Wörter in 290 000 Ein­trä­gen enthält (z.B. hier):

The sta­tis­tics of Eng­lish are aston­ish­ing. Of all the world’s lan­guages (which now num­ber some 2,700), it is arguably the rich­est in vocab­u­lary. The com­pen­dious Oxford Eng­lish Dic­tio­nary lists about 500,000 words; and a fur­ther half-mil­lion tech­ni­cal and sci­en­tif­ic terms remain uncat­a­logued. Accord­ing to tra­di­tion­al esti­mates, neigh­bor­ing Ger­man has a vocab­u­lary of about 185,000 and French few­er than 100,000, includ­ing such Franglais as le snacque-barre and le hit-parade.

Nun ist das Oxford Eng­lish Dic­tio­nary ein his­torisches Wörter­buch: es enthält tausende von Wörtern, die aus der Sprache ver­schwun­den sind oder die nur in bes­timmten Dialek­ten vorkom­men, und natür­lich enthält es aber­tausende von Lehn­wörtern. Ein ver­gle­ich­bares Wörter­buch gibt es für das Deutsche oder Franzö­sis­che nicht, aber daraus lassen sich kein­er­lei Rückschlüsse über die Größe ihrer Wortschätze ableiten.

3. Jährlich kom­men rund tausend neue Wörter dazu, Dutzende ver­schwinden auch.

Woher diese Sta­tis­tik stammt, ist mir völ­lig schleier­haft. Mein Kol­lege Lothar Lem­nitzer kommt in sein­er Wort­warte schon in einem einzi­gen Monat auf über 300 neue Wörter. Aber hier gel­ten die sel­ben Ein­schränkun­gen, wie bei Punkt 2: Wieviele neue Wörter man zählt, hängt davon ab, was man als Wort zählt und was nicht. Immer­hin gibt die Behaup­tung der Bild Anlass zur Hoff­nung: Wenn für tausend neue Wörter nur „dutzende“ alte ver­schwinden, müsste der deutsche Wortschatz ja pro Jahr um min­des­tend 900 Wörter anwach­sen — wir wer­den das Englis­che also bald einge­holt haben.

4. Die Abro­gans-Hand­schrift (8. Jahrhun­dert) ist das älteste Buch in deutsch­er Sprache. Sie wurde in einem Kloster im Süd­west­en des deutschen Sprachraums von etwa 20 ver­schiede­nen Hän­den verfasst.

Das scheint grund­sät­zlich zu stim­men.

5. Der Mainz­er Reich­s­land­friede (15. August 1235) ist das erste Reichs­ge­setz, das in deutsch­er und lateinis­ch­er Sprache geschrieben wurde.

Auch hier stimmt Wikipedia zu.

6. Im 13. Jahrhun­dert kon­nte man das Wort „haben“ in 20 ver­schiede­nen For­men schreiben: haben, hauen, haven, hawen, habben, habin, hauin, habn, hab’n, habein, habm, habent, habe, heben, hebben, han, hane, hain, hayn, hen.

Genaugenom­men kon­nte man es schreiben, wie man wollte: eine ein­heitliche Orthografie (geschweige denn eine offizielle) gabe es im 13. Jahrhun­dert noch nicht. Man schrieb deshalb so, wie man sprach (oder zu sprechen glaubte). Die Beispiele der Bild zeigen deshalb nicht nur orthografis­che, son­dern vor allem dialek­tale Variation.

7. Die Märchen-Brüder Grimm haben 1838 in Berlin das Deutsche Wörter­buch begonnen. Der erste Band „A – Bier­molke“ erschien 1854.

Das stimmt. Inter­es­sant ist vielle­icht noch: der let­zte Band erschien erst 1960.

8. Etliche deutsche Wörter sind aus­ge­wan­dert: In den USA spricht man z. B. vom „Schweine­hund“, in Nige­ria sagt man „Ist das so?“

Den Schweine­hund ken­nen die Amerikan­er, wenn über­haupt, aus Kriegs­fil­men, in denen Deutsche mit diesem Wort unglaub­haft freigiebieg damit um sich wer­fen. Und das ange­bliche nige­ri­an­is­che Ist­das­so stammt — wie kön­nte es anders sein — aus der Liste der „aus­ge­wan­derten Wörter“. Es scheint unge­fähr so real zu sein, wie das Gestalt­mikro­fon: es gibt keinen einzi­gen Tre­f­fer auf nige­ri­an­is­chen Webseiten.

9. Das Wort „Reklame“ wurde 1930 als undeutsch gegen „Wer­bung“ ausgetauscht.

Hier bleibt unklar, wer diese zwei Wörter gegeneinan­der „aus­ge­tauscht“ haben soll. Ein offizielles Ver­bot erscheint mir unwahrschein­lich, da der dama­lige Reich­skan­zler Hein­rich Brün­ing andere Sor­gen gehabt haben dürfte. Aber vielle­icht war es ja gar kein Ver­bot, son­dern nur der Wun­sch dama­liger Sprach­nör­gler. Oder die Bild hat sich im Jahr geir­rt. Wie dem auch sei, beson­dere Mühe hat sich mit der Ver­mei­dung des Wortes Reklame offen­sichtlich nie­mand gegeben.

10. Beispiel Sprach-Entwick­lung: „Da kam eine samari­tis­che Frau, um Wass­er zu holen. Jesus sagte zu ihr: Gib mir zu trinken…“ (Bibel-Über­set­zung 1926). Bei Mar­tin Luther las sich das 1522 so: „Da kompt eyn weyb von Samaria, wass­er zu schep­f­fen, Jhe­sus spricht zu yhr, gib myr trincken…“

Wofür auch immer das ein Beispiel ist — Sprachen­twick­lung lässt sich daran kaum verdeut­lichen. Luther wählte das Präsens, die Über­set­zung von 1926 das Prä­ter­i­tum, aber davon abge­se­hen unter­schei­det sich Luthers Über­set­zung nur in der orthografis­chen Darstel­lung. Im Gegen­teil — das Beispiel zeigt, wie langsam sich Gram­matik und Wortschatz ein­er Sprache verän­dern: wenn wir in Luthers Zeit zurück­reisen wür­den, kön­nten wir uns dort ohne größere Prob­leme ver­ständlich machen.

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Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

11 Gedanken zu „Zehn „Geheimnisse“ der deutschen Sprache

  1. Frank Rawel

    Dass das Abro­gans-Glos­sar von etwa “20 ver­schiede­nen Hän­den” ver­fasst wurde, spricht 1. für mein Gefühl den Hän­den unver­di­ent Autoren­schaft zu. 2. kann man bei ein­er Abschrift sowieso nicht vom Ver­fassen sprechen, oder?

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  2. Anatol Stefanowitsch

    Frank Rawel (#1), soweit ich weiß, spricht man bei der Unter­suchung alter Manuskripte von „Hän­den“ wenn man Schreiber (bzw. ihre Hand­schrifen) meint. Im Kon­text der Bildzeitung klingt das tat­säch­lich wun­der­lich. Es ist wohl auch eine sehr großzügige, nicht von allen Forsch­ern geteilte Schätzung der Anzahl beteiligter Schreiber (siehe hier).

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  3. David Marjanović

    Ein ver­gle­ich­bares Wörter­buch gibt es für das Deutsche oder Franzö­sis­che nicht

    Das Grimm’sche wäre so eins gewe­sen, aber es ist natür­lich so 200 Jahre lang nicht updat­ed auf neuesten Stand gebracht wor­den, anders als das OED, das je nach Band nur bis zu 50 Jahre hinterherhinkt…

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  4. Redwraithvienna

    @ Liam R : Sie wis­sen sich­er nicht was es ist, die Assozi­a­tion mit WK 2 und deutschen Sol­dat­en ist aber dur­chaus gegeben.

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  5. Handundfaust

    @ Rawel (#1) & Ste­fanow­itsch (#4)

    > spricht man bei der Unter­suchung alter Manuskripte von „Hän­den“ wenn man Schreiber (bzw. ihre Hand­schrifen) meint

    Ähn­lich ange­blich (N. Stephen­son, “Crypto­nom­i­con”) auch in der Kryp­tolo­gie des 2. WK, wo man die Echtheit ein­er gemorsten Nachricht auch anhand der bekan­nten “Faust”/“fist” des Senders einzuschätzen versuchte.

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  6. subjektiv

    Deutsch beste­ht aus rund 300 000 Wörtern? Ob die denn eigentlich auch jed­er sprechen kann, wieviel Wörter hat den so der “Otto Nor­mal” Deutsche im Gebrauch, echt interessant.….

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  7. Danny

    401.000 Google-Tre­f­fer für “swine­hund”. Nochmal so viele Tre­f­fer für “schwine­hund”. Eine ganze Menge dafür, dass kein Amerikan­er den “Schweine­hund” ken­nen soll. Und ger­ade mal ein Vier­tel der Tre­f­fer ste­hen in einem Kon­text rund um GERMANY, GERMAN, NAZI oder WW2.

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