Freiheit ist Bevormundung

Von Anatol Stefanowitsch

In Berlin tobt seit Monat­en ein auch sprach­lich inter­es­san­ter Kul­turkampf um den Reli­gion­sun­ter­richt an staatlichen Schulen.

Die aktuelle Sit­u­a­tion ist die fol­gende: An den Berlin­er Grund­schulen (1–6. Klasse) gibt es einen (bis zu 90% staatlich finanzierten) Reli­gions- und Weltan­schau­ung­sun­ter­richt. Diesen Unter­richt kann im Prinzip jede weltan­schauliche Organ­i­sa­tion anbi­eten, neben der katholis­chen und evan­ge­lis­chen Kirche bieten z.B. auch der Human­is­tis­che Ver­band Deutsch­land, die Jüdis­che Gemeinde und die Islamis­che Föder­a­tion diesen Unter­richt an. Die Teil­nahme am Reli­gions- und Weltan­schau­ung­sun­ter­richt ist in Berlin allerd­ings, anders als in den meis­ten anderen Bun­deslän­dern, schon seit 1948 freiwillig.

Von der 7. bis zur 10. Klasse gibt es in Berlin seit 2006 das Pflicht­fach „Ethik“. Dessen Ziele sind, ger­ade in ein­er mul­ti­kul­turellen Großs­tadt, nur zu begrüßen:

Friedlich zusam­men­leben, gemein­sam über Werte nach­denken, Respekt für den anderen entwick­eln. Diese drei Ziele gel­ten für jedes Unter­richts­fach. In „Ethik“ bedeuten sie noch mehr: Sie sind Inhalt des Unter­richts­fach­es selb­st. Nicht jede Math­e­matik-Stunde kann Fra­gen der Lebens­gestal­tung oder des Zusam­men­lebens berühren. Ethik-Stun­den kön­nen dies, weil in ihnen die Beschäf­ti­gung mit Antworten, im Dia­log und mit ver­schiede­nen Sichtweisen, Pro­gramm ist.

Ethik ist ein Fach, das zu Berlin passt. Denn in unser­er Stadt mit ihrer Vielfalt von Men­schen unter­schiedlich­er Herkun­ft, unter­schiedlich­er Glaubens- und Weltan­schau­ungsrich­tun­gen, unter­schiedlich­er kul­tureller Tra­di­tio­nen müssen sich junge Men­schen über die gemein­same Basis unser­er Gesellschaft klar wer­den kön­nen. Denn trotz aller Unter­schiedlichkeit sind Übereinkün­fte über die Eigen­ver­ant­wor­tung, zur Gle­ich­berech­ti­gung von Frau und Mann und zum tol­er­an­tem Umgang mit Ander­s­denk­enden Grundbe­din­gung. [Sen­atsver­wal­tung für Bil­dung, Wis­senschaft und Forschung, Berlin]

Plakat der Pro-Reli-Kampagne: "Es geht um die Freiheit. Freie Wahl"

Plakat der Pro-Reli-Kampagne

Neben dem Pflicht­fach Ethik gibt es auch in der 7–10 Klasse weit­er­hin das frei­willige Fach „Reli­gion“. Die Teil­nehmerzahlen für dieses Fach sind seit Ein­führung des Fach­es „Ethik“ nur für den evan­ge­lis­chen Reli­gion­sun­ter­richt kon­tinuier­lich zurück­ge­gan­gen, für alle anderen sind die Zahlen sta­bil oder leicht ansteigend.

Eigentlich ist also alles in bester Ord­nung: Alle Schüler kön­nen im Ethikun­ter­richt gemein­sam über ethis­che Nor­men disku­tieren und wer außer­dem eine wöchentliche Por­tion bronzezeitlich­er Mytholo­gie braucht, kann sie sich im Reli­gion­sun­ter­richt frei­willig abholen.

Der Vere­in „Pro Reli“ sieht das anders. Mit sieben Argu­menten, die der­ar­tig schein­heilig sind, dass ich sie hier nicht weit­er disku­tieren will, will man den Reli­gion­sun­ter­richt zum Wahlpflicht­fach erheben (was er, wie gesagt, in Berlin noch nie war), und Ethik eben­falls zum Wahlpflicht­fach herun­ter­stufen. Der Vere­in, der unter anderem von der evan­ge­lis­chen und katholis­chen Kirche, der Jüdis­chen Gemeinde, der Türkisch-Islamis­chen Union und der Berlin­er CDU und FDP getra­gen wird, hat ein Volks­begehren durchge­set­zt, in dem am 26. April über diesen Vorschlag abges­timmt wer­den soll. Im Gegen­zug hat sich eine Ini­tia­tive „Pro Ethikformiert, in der die Berlin­er SPD, Linkspartei und Bünd­nis 90/Die Grü­nen, die Gew­erkschaft Erziehung und Wis­senschaft, der Bun­des­fachver­band Ethik, die Bürg­er­recht­sor­gan­i­sa­tion Human­is­tis­che Union und der Human­is­tis­che Ver­band für eine Erhal­tung des Sta­tus Quo kämpfen.

Damit komme ich endlich zum sprach­lich rel­e­van­ten Teil dieses Beitrags: den Plakat­en und Trans­par­enten, mit denen „Pro Reli“ und „Pro Ethik“ für ihre jew­eilige Sache werben.

Transparent der Pro-Reli-Kampagne: "Wir wollen Wahlfreiheit"

Trans­par­ent der Pro-Reli-Kampagne

Die Ini­tia­tive „Pro Reli“ wirbt unter anderem mit dem Bild eines blonden, blauäugi­gen Kindes, das selig lächel­nd him­mel­wärts zeigt. „ES GEHT UM DIE FREIHEIT“ ste­ht darüber, und „Keine Bevor­mundung durch den Staat“. Auf großen grü­nen Trans­par­enten find­en sich Forderun­gen wie „WIR WOLLEN WAHLFREIHEIT!“ und „WIR GLAUBEN NICHT, dass man auf Reli­gion­sun­ter­richt verzicht­en kann.“

Transparent der Pro-Reli-Kampagne: "Wir glauben nicht, dass man auf Religionsunterricht verzichten kann"

Trans­par­ent der Pro-Reli-Kampagne

An Unehrlichkeit sind diese Aus­sagen kaum zu über­bi­eten: Frei­heit gab es in Berlin in Bezug auf den Reli­gion­sun­ter­richt schon immer — tat­säch­lich kenne ich kein Bun­des­land, das in diesem Bere­ich soviel Frei­heit geschaf­fen hat. Darüber hin­aus wer­den die Lehrpläne staatlich­er Schulen, wie sollte es anders sein, durch den Staat (die Bun­deslän­der) fest­gelegt und der richtet sich dabei nach Prinzip­i­en wie gesellschaftlich­er Rel­e­vanz, beru­flich­er Anschlussfähigkeit und natür­lich wis­senschaftlich­er Fak­ten­treue. Eine Bevor­mundung ist das nur in sofern, als dadurch allen in Deutsch­land leben­den Men­schen bis zum 16. Leben­s­jahr die „Frei­heit“ genom­men wird, igno­rant zu sein. Dass dieses Prinzip auch auf einen all­ge­meinen Ethikun­ter­richt aus­gedehnt wird, stellt eben­sowenig eine Bevor­mundung dar wie die Tat­sache, dass im Englis­chunter­richt Englisch, im Physikun­ter­richt Physik und im Sportun­ter­richt Sport unter­richtet wird. Und wem die Prinzip­i­en staatlich­er Bil­dungspoli­tik der Bevor­mundung zuviel sind, der darf seine Kinder auf (staatlich bezuschusste) Pri­vatschulen schick­en, die in der Gestal­tung ihrer Lehrpläne nur wenig Rück­sicht auf diese Prinzip­i­en nehmen müssen. Und der Reli­gion­sun­ter­richt soll auch nicht abgeschafft wer­den, in sofern ist es ohne Belang, ob die Reli­gion­s­ge­mein­schaften glauben, man könne nicht ohne ihn auskom­men: Reli­gion­sun­ter­richt war in Berlin immer frei­willig und er soll auch frei­willig bleiben. „Pro Reli“ geht es bei aller an die amerikanis­chen Kreation­is­ten erin­nern­der Frei­heit­srhetorik nur um eine einzige Sache: man will die eige­nen Kinder aus dem Ethikun­ter­richt her­aushal­ten. Warum, darüber kön­nte man tre­f­flich spekulieren.

Plakat der Pro-Ethik-Kampagne: "Gemeinsam, nicht getrennt! Nein zum Wahlzwang."

Plakat der Pro-Ethik-Kampagne

Wen­den wir uns statt dessen wieder der Sprache zu. Im Gegen­satz zum Orwell’schen Dou­ble Speak der Plakatüber­schriften ist der Slo­gan auf den „Pro-Reli“-Plakaten und ‑Trans­par­enten unfrei­willig ehrlich: „FREIE WAHL! zwis­chen ETHIK und RELIGION“ ste­ht da. Ich nehme an, das soll eine Kurz­form sein für Freie Wahl zwis­chen Ethikunter­richt und Reli­gionsun­ter­richt, aber so, wie der Slo­gan nun auf den Plakat­en ste­ht, kann man ihn nur als Eingeständ­nis werten, dass Reli­gion und Ethik einan­der auss­chließen. Wir Athe­is­ten haben diese Ver­mu­tung ja schon länger, aber es ist schön, dass jet­zt auch die großen Reli­gion­s­ge­mein­schaften in Deutsch­land es endlich zugeben.

Plakat der Pro-Ethik-Kampagne: "Lasst uns beides: Ethik plus Religion! Nein zum Wahlzwang."

Plakat der Pro-Ethik-Kampagne

Aber so sehr ich mit der Gegenini­tia­tive „Pro Ethik“ sym­pa­thisiere, sprach­lich hat sie auf ihren Plakat­en lei­der auch daneben gegrif­f­en. Eigentlich geht es ganz vernün­ftig los: „Ethik: Gemein­sam, nicht getren­nt!“ ste­ht dort auf rotem Hin­ter­grund über einem Bild von zwei sehr sym­pa­this­chen, gener­isch mul­ti­kul­turellen jun­gen Damen, die nicht entrückt in den Him­mel son­dern direkt in die Kam­era lächeln. Damit kom­mu­niziert das Plakat punk­t­ge­nau den großen Vorteil des Ethikun­ter­richts. Lei­der hat man es nicht dabei belassen, son­dern den sehr unglück­lich for­mulierten Slo­gan „Am 26.4. NEIN zum Wahlzwang“ hinzuge­fügt. Wer sich ver­tieft mit der Materie beschäftigt ver­ste­ht natür­lich, was hier gemeint ist: Wenn „Pro Reli“ sich durch­set­zt, müssen Schüler (bzw. deren Eltern) sich in Zukun­ft zwis­chen Ethik- und Reli­gion­sun­ter­richt entschei­den, während sie nach dem Sta­tus Quo bei­des haben kön­nen. Ein alter­na­tives, grün gehaltenes Plakat über­schreibt das Foto mit „Lasst uns bei­des: Ethik plus Reli­gion“ und macht damit etwas deut­lich­er, auf was sich Wahlzwang beziehen soll.

Das Wort Wahlzwang geste­ht der Gegen­seite aber impliz­it zu, dass man dort den Men­schen eine „Wahl“ lassen will. Schlim­mer noch, es stellt diese (ange­bliche) Wahl­frei­heit als etwas schlecht­es dar — einen Zwang zur Selb­st­ständigkeit, mit der der Bürg­er über­fordert ist. Ob man mit solchen For­mulierun­gen die Herzen der Bewohn­er ein­er Stadt gewin­nt, deren eine Hälfte bis vor zwanzig Jahren Haupt­stadt ein­er sozial­is­tis­chen Dik­tatur war, find­en wir am 26. April heraus.

Bild­nach­weis: Alle Bilder © 2009 by Ana­tol Ste­fanow­itsch (CC-BY-SA 2.5). [Wenn jemand ein besseres Bild des blauen Pro-Reli-Plakates besitzt und zur Ver­fü­gung stellen würde, wäre das sehr schön]. 

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