In Berlin tobt seit Monaten ein auch sprachlich interessanter Kulturkampf um den Religionsunterricht an staatlichen Schulen.
Die aktuelle Situation ist die folgende: An den Berliner Grundschulen (1–6. Klasse) gibt es einen (bis zu 90% staatlich finanzierten) Religions- und Weltanschauungsunterricht. Diesen Unterricht kann im Prinzip jede weltanschauliche Organisation anbieten, neben der katholischen und evangelischen Kirche bieten z.B. auch der Humanistische Verband Deutschland, die Jüdische Gemeinde und die Islamische Föderation diesen Unterricht an. Die Teilnahme am Religions- und Weltanschauungsunterricht ist in Berlin allerdings, anders als in den meisten anderen Bundesländern, schon seit 1948 freiwillig.
Von der 7. bis zur 10. Klasse gibt es in Berlin seit 2006 das Pflichtfach „Ethik“. Dessen Ziele sind, gerade in einer multikulturellen Großstadt, nur zu begrüßen:
Friedlich zusammenleben, gemeinsam über Werte nachdenken, Respekt für den anderen entwickeln. Diese drei Ziele gelten für jedes Unterrichtsfach. In „Ethik“ bedeuten sie noch mehr: Sie sind Inhalt des Unterrichtsfaches selbst. Nicht jede Mathematik-Stunde kann Fragen der Lebensgestaltung oder des Zusammenlebens berühren. Ethik-Stunden können dies, weil in ihnen die Beschäftigung mit Antworten, im Dialog und mit verschiedenen Sichtweisen, Programm ist.
Ethik ist ein Fach, das zu Berlin passt. Denn in unserer Stadt mit ihrer Vielfalt von Menschen unterschiedlicher Herkunft, unterschiedlicher Glaubens- und Weltanschauungsrichtungen, unterschiedlicher kultureller Traditionen müssen sich junge Menschen über die gemeinsame Basis unserer Gesellschaft klar werden können. Denn trotz aller Unterschiedlichkeit sind Übereinkünfte über die Eigenverantwortung, zur Gleichberechtigung von Frau und Mann und zum tolerantem Umgang mit Andersdenkenden Grundbedingung. [Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung, Berlin]
Neben dem Pflichtfach Ethik gibt es auch in der 7–10 Klasse weiterhin das freiwillige Fach „Religion“. Die Teilnehmerzahlen für dieses Fach sind seit Einführung des Faches „Ethik“ nur für den evangelischen Religionsunterricht kontinuierlich zurückgegangen, für alle anderen sind die Zahlen stabil oder leicht ansteigend.
Eigentlich ist also alles in bester Ordnung: Alle Schüler können im Ethikunterricht gemeinsam über ethische Normen diskutieren und wer außerdem eine wöchentliche Portion bronzezeitlicher Mythologie braucht, kann sie sich im Religionsunterricht freiwillig abholen.
Der Verein „Pro Reli“ sieht das anders. Mit sieben Argumenten, die derartig scheinheilig sind, dass ich sie hier nicht weiter diskutieren will, will man den Religionsunterricht zum Wahlpflichtfach erheben (was er, wie gesagt, in Berlin noch nie war), und Ethik ebenfalls zum Wahlpflichtfach herunterstufen. Der Verein, der unter anderem von der evangelischen und katholischen Kirche, der Jüdischen Gemeinde, der Türkisch-Islamischen Union und der Berliner CDU und FDP getragen wird, hat ein Volksbegehren durchgesetzt, in dem am 26. April über diesen Vorschlag abgestimmt werden soll. Im Gegenzug hat sich eine Initiative „Pro Ethik“ formiert, in der die Berliner SPD, Linkspartei und Bündnis 90/Die Grünen, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, der Bundesfachverband Ethik, die Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union und der Humanistische Verband für eine Erhaltung des Status Quo kämpfen.
Damit komme ich endlich zum sprachlich relevanten Teil dieses Beitrags: den Plakaten und Transparenten, mit denen „Pro Reli“ und „Pro Ethik“ für ihre jeweilige Sache werben.
Die Initiative „Pro Reli“ wirbt unter anderem mit dem Bild eines blonden, blauäugigen Kindes, das selig lächelnd himmelwärts zeigt. „ES GEHT UM DIE FREIHEIT“ steht darüber, und „Keine Bevormundung durch den Staat“. Auf großen grünen Transparenten finden sich Forderungen wie „WIR WOLLEN WAHLFREIHEIT!“ und „WIR GLAUBEN NICHT, dass man auf Religionsunterricht verzichten kann.“
An Unehrlichkeit sind diese Aussagen kaum zu überbieten: Freiheit gab es in Berlin in Bezug auf den Religionsunterricht schon immer — tatsächlich kenne ich kein Bundesland, das in diesem Bereich soviel Freiheit geschaffen hat. Darüber hinaus werden die Lehrpläne staatlicher Schulen, wie sollte es anders sein, durch den Staat (die Bundesländer) festgelegt und der richtet sich dabei nach Prinzipien wie gesellschaftlicher Relevanz, beruflicher Anschlussfähigkeit und natürlich wissenschaftlicher Faktentreue. Eine Bevormundung ist das nur in sofern, als dadurch allen in Deutschland lebenden Menschen bis zum 16. Lebensjahr die „Freiheit“ genommen wird, ignorant zu sein. Dass dieses Prinzip auch auf einen allgemeinen Ethikunterricht ausgedehnt wird, stellt ebensowenig eine Bevormundung dar wie die Tatsache, dass im Englischunterricht Englisch, im Physikunterricht Physik und im Sportunterricht Sport unterrichtet wird. Und wem die Prinzipien staatlicher Bildungspolitik der Bevormundung zuviel sind, der darf seine Kinder auf (staatlich bezuschusste) Privatschulen schicken, die in der Gestaltung ihrer Lehrpläne nur wenig Rücksicht auf diese Prinzipien nehmen müssen. Und der Religionsunterricht soll auch nicht abgeschafft werden, in sofern ist es ohne Belang, ob die Religionsgemeinschaften glauben, man könne nicht ohne ihn auskommen: Religionsunterricht war in Berlin immer freiwillig und er soll auch freiwillig bleiben. „Pro Reli“ geht es bei aller an die amerikanischen Kreationisten erinnernder Freiheitsrhetorik nur um eine einzige Sache: man will die eigenen Kinder aus dem Ethikunterricht heraushalten. Warum, darüber könnte man trefflich spekulieren.
Wenden wir uns statt dessen wieder der Sprache zu. Im Gegensatz zum Orwell’schen Double Speak der Plakatüberschriften ist der Slogan auf den „Pro-Reli“-Plakaten und ‑Transparenten unfreiwillig ehrlich: „FREIE WAHL! zwischen ETHIK und RELIGION“ steht da. Ich nehme an, das soll eine Kurzform sein für Freie Wahl zwischen Ethikunterricht und Religionsunterricht, aber so, wie der Slogan nun auf den Plakaten steht, kann man ihn nur als Eingeständnis werten, dass Religion und Ethik einander ausschließen. Wir Atheisten haben diese Vermutung ja schon länger, aber es ist schön, dass jetzt auch die großen Religionsgemeinschaften in Deutschland es endlich zugeben.
Aber so sehr ich mit der Gegeninitiative „Pro Ethik“ sympathisiere, sprachlich hat sie auf ihren Plakaten leider auch daneben gegriffen. Eigentlich geht es ganz vernünftig los: „Ethik: Gemeinsam, nicht getrennt!“ steht dort auf rotem Hintergrund über einem Bild von zwei sehr sympathischen, generisch multikulturellen jungen Damen, die nicht entrückt in den Himmel sondern direkt in die Kamera lächeln. Damit kommuniziert das Plakat punktgenau den großen Vorteil des Ethikunterrichts. Leider hat man es nicht dabei belassen, sondern den sehr unglücklich formulierten Slogan „Am 26.4. NEIN zum Wahlzwang“ hinzugefügt. Wer sich vertieft mit der Materie beschäftigt versteht natürlich, was hier gemeint ist: Wenn „Pro Reli“ sich durchsetzt, müssen Schüler (bzw. deren Eltern) sich in Zukunft zwischen Ethik- und Religionsunterricht entscheiden, während sie nach dem Status Quo beides haben können. Ein alternatives, grün gehaltenes Plakat überschreibt das Foto mit „Lasst uns beides: Ethik plus Religion“ und macht damit etwas deutlicher, auf was sich Wahlzwang beziehen soll.
Das Wort Wahlzwang gesteht der Gegenseite aber implizit zu, dass man dort den Menschen eine „Wahl“ lassen will. Schlimmer noch, es stellt diese (angebliche) Wahlfreiheit als etwas schlechtes dar — einen Zwang zur Selbstständigkeit, mit der der Bürger überfordert ist. Ob man mit solchen Formulierungen die Herzen der Bewohner einer Stadt gewinnt, deren eine Hälfte bis vor zwanzig Jahren Hauptstadt einer sozialistischen Diktatur war, finden wir am 26. April heraus.
Bildnachweis: Alle Bilder © 2009 by Anatol Stefanowitsch (CC-BY-SA 2.5). [Wenn jemand ein besseres Bild des blauen Pro-Reli-Plakates besitzt und zur Verfügung stellen würde, wäre das sehr schön].
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