Auf dem Schulweg heute morgen.
Meine Tochter: Papa, wir nehmen jetzt endlich die Wortarten durch.
(Sie hatte schon ungeduldig darauf gewartet, seit ich ihr irgendwann einmal erklärt habe, dass manche Wörter großgeschrieben werden, weil sie zu einer bestimmten Wortart gehören).
Ich: Na endlich! Und welche Wortart habt ihr gestern kennengelernt?
Sie: Tuwörter.
Oh, nein. Lehrer tun also heutzutage immernoch so, als könne man Wortarten an ihrer Bedeutung erkennen? Bei uns hießen Verben damals Tätigkeitswörter, aber irgendwie hatte ich gehofft, dass sich in den letzten dreißig Jahren in dieser Hinsicht etwas getan hätte.
Ich: Ah. Und was sind Tuwörter?
Sie: Alles, was man machen kann — laufen und springen und so.
Ich: Ah. Und in dem Satz Er friert, wo ist da das „Tuwort“?
Sie: Friert, also frieren.
Ich: Und in dem Satz Die Schokoladentorte schmeckt gut?
Sie: Schmecken.
Ich: Ja, und ist frieren etwas, was man „macht“?
Sie: Nee.
Ich: Und schmecken?
Sie: Nee, man kann ja nicht sagen, „Was macht die Torte? — Sie schmeckt gut“.
Ich: Ja. Und ist Unfug ein Tuwort?
Sie: Nee.
Ich: Aber es ist doch etwas, was man machen kann.
Sie: Ja, aber es ist kein Tuwort.
Ich: Also gibt es Wörter, die etwas bezeichnen, das man „machen“ kann, die aber keine Tuwörter sind, und Wörter, die Tuwörter sind, die aber etwas bezeichnen, was man nicht machen kann.
Sie: Ja, stimmt.
(Pause)
Sie: Ja, zum Beispiel auch fliegen.
(Hm. Hat sie mich vielleicht falsch verstanden?)
Ich: Wieso fliegen?
Sie: Ja, weil wenn man sagt „Ich fliege nach Amerika“, dann fliegt man ja nicht selber. Das Flugzeug fliegt.
Auf dieses Beispiel, das übrigens semantisch extrem komplex ist, wäre ich gar nicht gekommen, aber es zeigt, wie sinnlos es ist, Wortarten semantisch zu bestimmen. Fliegen ist ja eigentlich ein „Tu“-Wort: Was macht der Vogel? Er fliegt. Aber selbst solche Wörter werden in Zusammenhängen verwendet, in denen ihre Bedeutung durch den Kontext so verändert wird, dass sie nicht mehr passen. Und das erkennt sogar ein Schulkind nach einem zweiminütigen Gespräch über Wortarten. Warum erkennen es Lehrer nicht, wenn sie einer Generation nach der anderen falsche Semantisierungen von Wortarten vorsetzen?
Es ist ja nicht so, als ob die Wissenschaft hier nichts zu bieten hätte. In jeder Einführung in die Sprachwissenschaft findet sich eine Diskussion über Wortarten und dort ist immer zu lesen, dass Wortarten nicht über Bedeutungen definiert werden können, sondern nur über ihr morphologisches Verhalten (mit welchen Affixen können sie auftreten) und über ihre Position im Satz (an welcher Stelle stehen sie, welche Rolle spielen sie dort).
Ich glaube, einer der Gründe für die Hartnäckigkeit, mit der sich Definitionen wie „Tuwörter bezeichnen alles, was man tun kann“ halten ist der, dass Sprecher (auch Schulkinder) eine sprachliche Intuition haben, die es ihnen ermöglicht, zu erkennen, welche Wörter in die selbe Klasse gehören. Diese Intuition beruht höchstwahrscheinlich auf einem unbewussten Wissen um morphologisches und syntaktisches Verhalten, aber da sie es Kindern ermöglicht, Wörter korrekt zu Wortarten zusammenzufassen, entsteht bei den Lehrern der Eindruck, die Definition helfe dabei.
Ich: Ja. Deshalb ist „Tuwörter“ kein guter Name für diese Wörter. Wir nennen sie deshalb Verben. Das ist das lateinische Wort für „Wort“.
Sie: Verben.
Ich: Genau. Aber wenn man Verben nicht an der Bedeutung erkennt, woran erkennt man sie denn dann?
Sie: Weiß ich nicht.
Ich: Naja, du hast ja alle Verben erkannt, auch die, die man nicht „machen“ kann. Woran hast du die wohl erkannt?
Sie: Weiß nicht. Ich weiß einfach, welches Wort das Verb ist.
Ich: Ja, aber woher?
(Pause)
Sie: Bei Verben kann man immer en sagen: laufen, springen, frieren…
Ich: Ja, das stimmt. Die Form nennt man Infinitiv. Verben kann man daran erkennen, dass sie einen Infinitiv haben, aber auch eine Gegenwartsform und eine Vergangenheitsform: laufen, Ich laufe, Ich lief.
Sie: Ah.
Ich: Ja, deshalb nennt man Verben manchmal auch „Zeitwörter“.
Sie: Ah. springe, sprang.
Ich: Genau. Wortarten kann man immer daran erkennen, was für Formen sie haben können.
Sie: Ok. Verben haben eine Zukunftsform und eine Vergangenheitsform.
Ich: Nein, deutsche Verben haben eine „Gegenwartsform“, die kann man für die Gegenwart und die Zukunft verwenden: Wir fahren gerade in die Schule, Wir fahren im nächsten Sommer an die Ostsee. Und eine Vergangenheitsform. Französische Verben haben eine eigene Zukunftsform: Nous allons à l’école, allons — Gegenwartsform, aber Nous irons en vacances, irons — Zukunftsform.
Zehn Minuten Schulweg reichen also, um einer Drittklässlerin (a) einen lateinischen Fachbegriff beizubringen, (b) ihr zu erklären, dass Wortarten nicht über ihre Bedeutung sondern über ihr formales Verhalten definiert werden und © darauf hinzuweisen, dass dieses formale Verhalten sprachspezifisch ist.
Ich: Und kennst du noch andere Wortarten?
Sie: Ja, Namenswörter.
Ich: Und was sind Namenswörter?
Sie: Wörter für Sachen, die man anfassen kann.
Ich: Darüber reden wir morgen.

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