Wortarten (Teil 1): „Tuwörter“

Von Anatol Stefanowitsch

Auf dem Schul­weg heute morgen.

Meine Tochter: Papa, wir nehmen jet­zt endlich die Wor­tarten durch.

(Sie hat­te schon ungeduldig darauf gewartet, seit ich ihr irgend­wann ein­mal erk­lärt habe, dass manche Wörter großgeschrieben wer­den, weil sie zu ein­er bes­timmten Wor­tart gehören).

Ich: Na endlich! Und welche Wor­tart habt ihr gestern kennengelernt?

Sie: Tuwörter.

Oh, nein. Lehrer tun also heutzu­tage immer­noch so, als könne man Wor­tarten an ihrer Bedeu­tung erken­nen? Bei uns hießen Ver­ben damals Tätigkeitswörter, aber irgend­wie hat­te ich gehofft, dass sich in den let­zten dreißig Jahren in dieser Hin­sicht etwas getan hätte.

Ich: Ah. Und was sind Tuwörter?

Sie: Alles, was man machen kann — laufen und sprin­gen und so.

Ich: Ah. Und in dem Satz Er friert, wo ist da das „Tuwort“?

Sie: Friert, also frieren.

Ich: Und in dem Satz Die Schoko­laden­torte schmeckt gut?

Sie: Schmeck­en.

Ich: Ja, und ist frieren etwas, was man „macht“?

Sie: Nee.

Ich: Und schmeck­en?

Sie: Nee, man kann ja nicht sagen, „Was macht die Torte? — Sie schmeckt gut“.

Ich: Ja. Und ist Unfug ein Tuwort?

Sie: Nee.

Ich: Aber es ist doch etwas, was man machen kann.

Sie: Ja, aber es ist kein Tuwort.

Ich: Also gibt es Wörter, die etwas beze­ich­nen, das man „machen“ kann, die aber keine Tuwörter sind, und Wörter, die Tuwörter sind, die aber etwas beze­ich­nen, was man nicht machen kann.

Sie: Ja, stimmt.

(Pause)

Sie: Ja, zum Beispiel auch fliegen.

(Hm. Hat sie mich vielle­icht falsch verstanden?)

Ich: Wieso fliegen?

Sie: Ja, weil wenn man sagt „Ich fliege nach Ameri­ka“, dann fliegt man ja nicht sel­ber. Das Flugzeug fliegt.

Auf dieses Beispiel, das übri­gens seman­tisch extrem kom­plex ist, wäre ich gar nicht gekom­men, aber es zeigt, wie sinn­los es ist, Wor­tarten seman­tisch zu bes­tim­men. Fliegen ist ja eigentlich ein „Tu“-Wort: Was macht der Vogel? Er fliegt. Aber selb­st solche Wörter wer­den in Zusam­men­hän­gen ver­wen­det, in denen ihre Bedeu­tung durch den Kon­text so verän­dert wird, dass sie nicht mehr passen. Und das erken­nt sog­ar ein Schulkind nach einem zweim­inüti­gen Gespräch über Wor­tarten. Warum erken­nen es Lehrer nicht, wenn sie ein­er Gen­er­a­tion nach der anderen falsche Seman­tisierun­gen von Wor­tarten vorsetzen?

Es ist ja nicht so, als ob die Wis­senschaft hier nichts zu bieten hätte. In jed­er Ein­führung in die Sprach­wis­senschaft find­et sich eine Diskus­sion über Wor­tarten und dort ist immer zu lesen, dass Wor­tarten nicht über Bedeu­tun­gen definiert wer­den kön­nen, son­dern nur über ihr mor­phol­o­gis­ches Ver­hal­ten (mit welchen Affix­en kön­nen sie auftreten) und über ihre Posi­tion im Satz (an welch­er Stelle ste­hen sie, welche Rolle spie­len sie dort).

Ich glaube, ein­er der Gründe für die Hart­näck­igkeit, mit der sich Def­i­n­i­tio­nen wie „Tuwörter beze­ich­nen alles, was man tun kann“ hal­ten ist der, dass Sprech­er (auch Schulkinder) eine sprach­liche Intu­ition haben, die es ihnen ermöglicht, zu erken­nen, welche Wörter in die selbe Klasse gehören. Diese Intu­ition beruht höchst­wahrschein­lich auf einem unbe­wussten Wis­sen um mor­phol­o­gis­ches und syn­tak­tis­ches Ver­hal­ten, aber da sie es Kindern ermöglicht, Wörter kor­rekt zu Wor­tarten zusam­men­z­u­fassen, entste­ht bei den Lehrern der Ein­druck, die Def­i­n­i­tion helfe dabei.

Ich: Ja. Deshalb ist „Tuwörter“ kein guter Name für diese Wörter. Wir nen­nen sie deshalb Ver­ben. Das ist das lateinis­che Wort für „Wort“.

Sie: Ver­ben.

Ich: Genau. Aber wenn man Ver­ben nicht an der Bedeu­tung erken­nt, woran erken­nt man sie denn dann?

Sie: Weiß ich nicht.

Ich: Naja, du hast ja alle Ver­ben erkan­nt, auch die, die man nicht „machen“ kann. Woran hast du die wohl erkannt?

Sie: Weiß nicht. Ich weiß ein­fach, welch­es Wort das Verb ist.

Ich: Ja, aber woher?

(Pause)

Sie: Bei Ver­ben kann man immer en sagen: laufen, springen, frieren

Ich: Ja, das stimmt. Die Form nen­nt man Infini­tiv. Ver­ben kann man daran erken­nen, dass sie einen Infini­tiv haben, aber auch eine Gegen­warts­form und eine Ver­gan­gen­heits­form: laufen, Ich laufe, Ich lief.

Sie: Ah.

Ich: Ja, deshalb nen­nt man Ver­ben manch­mal auch „Zeitwörter“.

Sie: Ah. springe, sprang.

Ich: Genau. Wor­tarten kann man immer daran erken­nen, was für For­men sie haben können.

Sie: Ok. Ver­ben haben eine Zukun­fts­form und eine Vergangenheitsform.

Ich: Nein, deutsche Ver­ben haben eine „Gegen­warts­form“, die kann man für die Gegen­wart und die Zukun­ft ver­wen­den: Wir fahren ger­ade in die Schule, Wir fahren im näch­sten Som­mer an die Ost­see. Und eine Ver­gan­gen­heits­form. Franzö­sis­che Ver­ben haben eine eigene Zukun­fts­form: Nous allons à l’é­cole, allons — Gegen­warts­form, aber Nous irons en vacances, irons — Zukunftsform.

Zehn Minuten Schul­weg reichen also, um ein­er Drit­tk­läss­lerin (a) einen lateinis­chen Fach­be­griff beizubrin­gen, (b) ihr zu erk­lären, dass Wor­tarten nicht über ihre Bedeu­tung son­dern über ihr for­males Ver­hal­ten definiert wer­den und © darauf hinzuweisen, dass dieses for­male Ver­hal­ten sprach­spez­i­fisch ist.

Ich: Und kennst du noch andere Wortarten?

Sie: Ja, Namenswörter.

Ich: Und was sind Namenswörter?

Sie: Wörter für Sachen, die man anfassen kann.

Ich: Darüber reden wir morgen.

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