Die Sprachnörgler haben vor kurzem eine neue Redewendung entdeckt, die es auszumerzen gilt, nämlich am Ende des Tages in der folgenden Verwendung:
- „Am Ende des Tages steht für mich eine renaturierte Ems“, sagt Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff. [Financial Times]
- „Am Ende des Tages zählen Leistung und Zahlen“, sagt Peter Staab, zuständig für Investor Relations… [Welt.de]
- Die deutsche Singspielindustrie darbt. Am Ende des Tages können nur heiße Stoffe wie das Obama-Musical neue Hoffnung bringen. [Finanztreff.de]
Schon 2006 hat Chefnörgler Bastian Sick diese Phrase in einer Glosse als Beispiel für einen Anglizismus erwähnt:
Die englische Metapher „at the end of the day“ bedeutet „letzten Endes“, „schließlich“. Für die meisten Deutschen ist das „Ende des Tages“ keine rhetorische Figur, sondern nichts anderes als der Abend. Die Verwendung im Sinne von „schließlich“ ist ein Anglizismus.
Bei meiner regelmäßigen Lektüre sprachnörglerischer Befindlichkeitsbekundungen ist mir die Redewendung dann lange Zeit nicht untergekommen, aber in den letzten Monaten ist sie in aller Munde.
Robert Sedlaczek bezeichnet sie in der Wiener Zeitung noch relativ neutral als „abgedroschene Phrase“ (Wiener Zeitung, 4. März 2009). Burkhard Spinnen will die Redewendung abschaffen, weil er die Gefahr sieht, dass des Englischen nicht mächtige Zeitgenossen sie fälschlicherweise wörtlich interpretieren könnten (Deutsche Welle, 11.9.2009). Alexander Jungkunz paraphrasiert in den Nürnberger Nachrichten Bastian Sick und bezeichnet die Redewendung dann schon etwas nörglerischer als „Quatsch“ (Nürnberger Nachrichten, 9.11.2009). Bernd Matthies möchte sie im Tagesspiegel sogar als „nervendste Redewendung des Jahres“ ausgezeichnet sehen (Tagesspiegel, 23.12.2009), und Christian Schacher beschimpft sie im Standard als den „blöden Bruder“ der Redewendung das macht Sinn (Der Standard, 11. Januar 2010).
Auch sprachlich gelassenere Beobachter befassen sich mit der Phrase. Hermann Schreiber, der mittlerweile wenig nörglerische und recht gut gelaunte Sprachglossist des Hamburger Abendblatts möchte in seiner Kolumne klären, woher die Redewendung kommt; allerdings fällt ihm nicht viel dazu ein: „Und wie kommt so ein Spruch zustande? Ganz einfach: Einer „erfindet“ ihn, ganz zufällig, und die anderen plappern ihn nach“ (Hamburger Abendblatt, 7. November 2009 — leider hinter der neuen Bezahlwand des Abendblatts). Und Harald Freiberger möchte den Managern die Redewendung zur Schärfung von deren Führungsprofil abgewöhnen:
Dabei passen die Floskeln gar nicht zu einem Manager. Denn er will agil und aktiv wirken, auf keinen Fall unbeweglich und passiv. Sagt er aber “am Ende des Tages”, bringt er sich automatisch in eine defensive Position; schließlich setzt die Formel „am Ende des Tages“ voraus, dass man vorher die Argumente der Gegenpartei nennt, um diese dann nach Einschub der Floskel zu widerlegen: „Alle sagen zwar immer, dass wir keine Rezepte für die Zukunft haben, am Ende des Tages aber wird sich zeigen, dass dem keineswegs so ist.“ [Süddeutsche Zeitung, 21.12.2009]
Ob die Redewendung nervt oder führungsschwach klingt, muss jeder für sich selbst entscheiden. Ich mag sie nicht besonders, aber außergewöhnlich defensiv kommt sie mir nicht vor. Sprachwissenschaftlich interessanter ist die Frage, die Schreiber stellt aber nur sehr allgemein beantwortet: woher kommt so eine Redewendung und wie verbreitet sie sich? Außerdem interessiert mich, warum die Sprachnörgler sich in letzter Zeit so massiv auf das Ende des Tages stürzen. Handelt es sich bei der Redewendung um ein neueres Phänomen, bzw. hat sie sich erst in letzter Zeit so stark verbreitet, dass sie sich praktisch aufdrängt?
Fangen wir mit der ersten Frage an. Sick geht in seiner Glosse davon aus, dass es sich um eine Entlehnung aus dem Englischen handelt, und es scheint mir plausibel, dass er damit Recht hat. Um es zu überprüfen, habe ich nach der Phrase für die Jahre 1999 bis 2003 in der Google-Büchersuche gesucht. Ich habe mir für jedes Jahr 100 Treffer angesehen und nach Verwendungen wie den oben zitierten gesucht.
Zwei Dinge fallen auf: fast alle Treffer stammen entweder aus Übersetzungen englischer Bücher (oder Zitate) oder aus betriebswirtschaftlichen Abhandlungen und Ratgebern. Nur drei der insgesamt 23 Treffer fallen in keine der beiden Kategorien. Die Häufigkeit der Übersetzungen bleibt über den Zeitraum relativ konstant, er schwankt zwischen einer und zwei Verwendungen pro Jahr. Der Anteil in der betriebswirtschaftlichen Literatur steigt dagegen von 2 im Jahr 2000 auf 5 im Jahr 2003 an. Eine plausible Erklärung wäre also, dass die Redewendung durch Übersetzungen aus dem Englischen ins Deutsche gekommen und dann von Wirtschaftsdenkern besonders enthusiastisch aufgenommen worden ist.
An dieser Stelle kann man an zwei Punkten nachhaken: erstens, wie kann eine derartige Redewendung überhaupt so einfach in eine andere Sprache übertragen werden; zweitens, warum ist der Begriff gerade in der Wirtschaft so beliebt?
Zur ersten Frage ist zu bemerken, dass es sich, wie ja schon Sick richtig anmerkt, um eine Art Metapher handelt: die häufigste Verwendung der Redewendung ist die in (1) und (2) dargestellte, also die mit der Bedeutung „am Ende des relevanten Prozesses oder Zeitraums“. Das „Ende des Tages“ verstehen wir aufgrund unseres typischen Tagesablaufs automatisch als ein natürliches Ende für Aktivitäten als guten Zeitpunkt für eine Rückschau. In dem wir unsere Vorstellung eines Tages auf einen beliebigen Zeitraum projizieren, verleihen wir diesem Zeitraum eine Struktur. Diese Projektion drückt sich auch in dem Ausdruck Lebensabend aus. Die in (3) dargestellte Bedeutung stellt einen weiteren Übertragungsschritt dar: hier ist die Bedeutung „bei Berücksichtigung aller relevanten Fakten“, ohne dass diese Fakten notwendigerweise alle genannt werden müssen bevor die Aussage getroffen wird.
Interessant ist aber, dass diese Metapher im Deutschen recht selten verwendet wird. Außer Lebensabend fallen mir noch die Ausdrücke fünf vor Zwölf und vielleicht Vorabend (am Vorabend des Zweiten Weltkriegs) ein. Im Englischen ist diese Metapher etwas produktiver. Neben den Entsprechungen für die hier genannten deutschen Begriffe (evening of life und on the eve of the Second World War) finden sich dort Begriffe wie high noon, at the dawn of sth. und sunset years (und natürlich Douglas Adams’ long, dark teatime of the soul. Dies könnte der Grund sein, warum die Redewendung im Deutschen fremder wirkt als im Englischen.
Allerdings macht das die Redewendung im englischen Sprachraum nicht beliebter: die Leser der Daily Mail wählten sie im Dezember zur „ärgerlichsten Bürofloskel des Jahres“ (der oben zitierte Tagesspiegel-Redakteur müsste begeistert sein). Diese Wahl deutet im Übrigen auch darauf hin, dass die Redewendung im englischen Sprachraum im Bereich der Wirtschaft besonders häufig verwendet wird, was auch die zweite eingeschobene Frage beantwortet: in der deutschen Wirtschaftssprache ist die Redewendung so häufig, weil sie aus der englischen Wirtschaftssprache stammt. Der Ursprung in der Wirtschaftssprache ist auch deshalb plausibel, weil in wirtschaftlichen Zusammenhängen (z.B. an der Börse) tatsächlich am Ende des Tages abgerechnet wird.
Bleibt die eingangs erwähnte Frage, ob die Redewendung neu ist oder gerade ein starkes Wachstum durchlaufen hat. Das ist in der Tat der Fall: Ich habe im Google-Nachrichtenarchiv vom Jahr 2009 an rückwärts nach der Phrase gesucht und jeweils den Anteil von Redewendungen an der Gesamtzahl der Verwendungen berechnet (die Wörter werden natürlich auch häufig wörtlich verwendet). Vor 1999 habe ich keine Verwendung der Redewendung mehr gefunden. Seit 1999 steigt die Verwendung aber prinzipiell an, wobei sie 2003 einen ersten Höhepunkt erreicht, danach absinkt, und in den letzten Jahren wieder ansteigt. Die folgende Grafik zeigt dies:
<img class=“center” alt=“Häfigkeit der Redewendung am Ende des Tages im Google-News-Archiv” title=“Häfigkeit der Redewendung am Ende des Tages
Auf der Grafik habe ich außerdem dargestellt, wie häufig in dem betreffenden Jahr metasprachliche Kommentare zur Redewendung vorkommen. Dabei habe ich sowohl nebenbei gemachte Bemerkungen (4) oder Anführungszeichen (5) mitgezählt, als auch Glossen, die sich direkt mit dem Phänomen auseinandersetzen:
- Am Ende des Tages aber, so sagen wir’s gern neu-denglisch und so passte es auch nach zehn langen Stunden, sah die Realität weitaus nüchterner aus. [Tagesspiegel, 22.10.2003]
- Doch «am Ende des Tages» zählt für sie und viele andere Marktteilnehmer vor allem eine Stimme: jene von Alan Greenspan. [NZZ, 16.7.2003]
Interessant ist hier, dass solche metasprachlichen Signale anfänglich relativ häufig sind, dann seltener werden während die Verwendungshäufigkeit der Redewendung stark ansteigt, und erst danach wieder häufiger werden. Diese Entwicklung ließe sich möglicherweise wie folgt erklären. Wenn eine Redewendung neu in eine Sprache kommt, wirkt sie durch ihre Neuartigkeit fremd und wird von den Mitgliedern der Sprachgemeinschaft bemerkt und kommentiert. Je stärker sie sich durchsetzt, desto normaler wirkt sie. Durch ihre Häufigkeit wird es aber auch wahrscheinlicher, dass sie einem professionellen Sprachnörgler auffällt und von ihm kommentiert wird und dass diese Kommentare dann anderen Sprachnörglern (und den Lesern von Sprachglossen) plausibel erscheinen.
Wenn der in der Grafik dargestellte Verlauf typisch ist, würde er das zentrale Dilemma aller Sprachkritik zeigen: diese versucht sprachliche Phänomene immer erst dann zu unterbinden, wenn sie für die Mehrheit der Sprachgemeinschaft zu einem festen Bestandteil der Sprache geworden sind.

30 Gedanken zu „Am Ende des Tages“