Am Ende des Tages

Von Anatol Stefanowitsch

Die Sprach­nör­gler haben vor kurzem eine neue Redewen­dung ent­deckt, die es auszumerzen gilt, näm­lich am Ende des Tages in der fol­gen­den Verwendung:

  1. Am Ende des Tages ste­ht für mich eine rena­turi­erte Ems“, sagt Nieder­sach­sens Min­is­ter­präsi­dent Chris­t­ian Wulff. [Finan­cial Times]
  2. Am Ende des Tages zählen Leis­tung und Zahlen“, sagt Peter Staab, zuständig für Investor Rela­tions… [Welt.de]
  3. Die deutsche Singspielin­dus­trie darbt. Am Ende des Tages kön­nen nur heiße Stoffe wie das Oba­ma-Musi­cal neue Hoff­nung brin­gen. [Finanztreff.de]

Schon 2006 hat Chefnör­gler Bas­t­ian Sick diese Phrase in ein­er Glosse als Beispiel für einen Anglizis­mus erwähnt:

Die englis­che Meta­pher „at the end of the day“ bedeutet „let­zten Endes“, „schließlich“. Für die meis­ten Deutschen ist das „Ende des Tages“ keine rhetorische Fig­ur, son­dern nichts anderes als der Abend. Die Ver­wen­dung im Sinne von „schließlich“ ist ein Anglizismus.

Bei mein­er regelmäßi­gen Lek­türe sprach­nör­g­lerisch­er Befind­lichkeits­bekun­dun­gen ist mir die Redewen­dung dann lange Zeit nicht untergekom­men, aber in den let­zten Monat­en ist sie in aller Munde.

Robert Sed­laczek beze­ich­net sie in der Wiener Zeitung noch rel­a­tiv neu­tral als „abge­drosch­ene Phrase“ (Wiener Zeitung, 4. März 2009). Burkhard Spin­nen will die Redewen­dung abschaf­fen, weil er die Gefahr sieht, dass des Englis­chen nicht mächtige Zeitgenossen sie fälschlicher­weise wörtlich inter­pretieren kön­nten (Deutsche Welle, 11.9.2009). Alexan­der Jungkunz para­phrasiert in den Nürn­berg­er Nachricht­en Bas­t­ian Sick und beze­ich­net die Redewen­dung dann schon etwas nör­g­lerisch­er als „Quatsch“ (Nürn­berg­er Nachricht­en, 9.11.2009). Bernd Matthies möchte sie im Tagesspiegel sog­ar als „ner­vend­ste Redewen­dung des Jahres“ aus­geze­ich­net sehen (Tagesspiegel, 23.12.2009), und Chris­t­ian Schacher beschimpft sie im Stan­dard als den „blö­den Brud­er“ der Redewen­dung das macht Sinn (Der Stan­dard, 11. Jan­u­ar 2010).

Auch sprach­lich gelassenere Beobachter befassen sich mit der Phrase. Her­mann Schreiber, der mit­tler­weile wenig nör­g­lerische und recht gut gelaunte Sprach­glos­sist des Ham­burg­er Abend­blatts möchte in sein­er Kolumne klären, woher die Redewen­dung kommt; allerd­ings fällt ihm nicht viel dazu ein: „Und wie kommt so ein Spruch zus­tande? Ganz ein­fach: Ein­er „erfind­et“ ihn, ganz zufäl­lig, und die anderen plap­pern ihn nach“ (Ham­burg­er Abend­blatt, 7. Novem­ber 2009 — lei­der hin­ter der neuen Bezahlwand des Abend­blatts). Und Har­ald Freiberg­er möchte den Man­agern die Redewen­dung zur Schär­fung von deren Führung­spro­fil abgewöhnen:

Dabei passen die Floskeln gar nicht zu einem Man­ag­er. Denn er will agil und aktiv wirken, auf keinen Fall unbe­weglich und pas­siv. Sagt er aber “am Ende des Tages”, bringt er sich automa­tisch in eine defen­sive Posi­tion; schließlich set­zt die Formel „am Ende des Tages“ voraus, dass man vorher die Argu­mente der Gegen­partei nen­nt, um diese dann nach Ein­schub der Floskel zu wider­legen: „Alle sagen zwar immer, dass wir keine Rezepte für die Zukun­ft haben, am Ende des Tages aber wird sich zeigen, dass dem keineswegs so ist.“ [Süd­deutsche Zeitung, 21.12.2009]

Ob die Redewen­dung nervt oder führungss­chwach klingt, muss jed­er für sich selb­st entschei­den. Ich mag sie nicht beson­ders, aber außergewöhn­lich defen­siv kommt sie mir nicht vor. Sprach­wis­senschaftlich inter­es­san­ter ist die Frage, die Schreiber stellt aber nur sehr all­ge­mein beant­wortet: woher kommt so eine Redewen­dung und wie ver­bre­it­et sie sich? Außer­dem inter­essiert mich, warum die Sprach­nör­gler sich in let­zter Zeit so mas­siv auf das Ende des Tages stürzen. Han­delt es sich bei der Redewen­dung um ein neueres Phänomen, bzw. hat sie sich erst in let­zter Zeit so stark ver­bre­it­et, dass sie sich prak­tisch aufdrängt?

Fan­gen wir mit der ersten Frage an. Sick geht in sein­er Glosse davon aus, dass es sich um eine Entlehnung aus dem Englis­chen han­delt, und es scheint mir plau­si­bel, dass er damit Recht hat. Um es zu über­prüfen, habe ich nach der Phrase für die Jahre 1999 bis 2003 in der Google-Büch­er­suche gesucht. Ich habe mir für jedes Jahr 100 Tre­f­fer ange­se­hen und nach Ver­wen­dun­gen wie den oben zitierten gesucht.

Zwei Dinge fall­en auf: fast alle Tre­f­fer stam­men entwed­er aus Über­set­zun­gen englis­ch­er Büch­er (oder Zitate) oder aus betrieb­swirtschaftlichen Abhand­lun­gen und Rat­ge­bern. Nur drei der ins­ge­samt 23 Tre­f­fer fall­en in keine der bei­den Kat­e­gorien. Die Häu­figkeit der Über­set­zun­gen bleibt über den Zeitraum rel­a­tiv kon­stant, er schwankt zwis­chen ein­er und zwei Ver­wen­dun­gen pro Jahr. Der Anteil in der betrieb­swirtschaftlichen Lit­er­atur steigt dage­gen von 2 im Jahr 2000 auf 5 im Jahr 2003 an. Eine plau­si­ble Erk­lärung wäre also, dass die Redewen­dung durch Über­set­zun­gen aus dem Englis­chen ins Deutsche gekom­men und dann von Wirtschafts­denkern beson­ders enthu­si­astisch aufgenom­men wor­den ist.

An dieser Stelle kann man an zwei Punk­ten nach­hak­en: erstens, wie kann eine der­ar­tige Redewen­dung über­haupt so ein­fach in eine andere Sprache über­tra­gen wer­den; zweit­ens, warum ist der Begriff ger­ade in der Wirtschaft so beliebt?

Zur ersten Frage ist zu bemerken, dass es sich, wie ja schon Sick richtig anmerkt, um eine Art Meta­pher han­delt: die häu­fig­ste Ver­wen­dung der Redewen­dung ist die in (1) und (2) dargestellte, also die mit der Bedeu­tung „am Ende des rel­e­van­ten Prozess­es oder Zeitraums“. Das „Ende des Tages“ ver­ste­hen wir auf­grund unseres typ­is­chen Tagesablaufs automa­tisch als ein natür­lich­es Ende für Aktiv­itäten als guten Zeit­punkt für eine Rückschau. In dem wir unsere Vorstel­lung eines Tages auf einen beliebi­gen Zeitraum pro­jizieren, ver­lei­hen wir diesem Zeitraum eine Struk­tur. Diese Pro­jek­tion drückt sich auch in dem Aus­druck Lebens­abend aus. Die in (3) dargestellte Bedeu­tung stellt einen weit­eren Über­tra­gungss­chritt dar: hier ist die Bedeu­tung „bei Berück­sich­ti­gung aller rel­e­van­ten Fak­ten“, ohne dass diese Fak­ten notwendi­ger­weise alle genan­nt wer­den müssen bevor die Aus­sage getrof­fen wird.

Inter­es­sant ist aber, dass diese Meta­pher im Deutschen recht sel­ten ver­wen­det wird. Außer Lebens­abend fall­en mir noch die Aus­drücke fünf vor Zwölf und vielle­icht Vor­abend (am Vor­abend des Zweit­en Weltkriegs) ein. Im Englis­chen ist diese Meta­pher etwas pro­duk­tiv­er. Neben den Entsprechun­gen für die hier genan­nten deutschen Begriffe (evening of life und on the eve of the Sec­ond World War) find­en sich dort Begriffe wie high noon, at the dawn of sth. und sun­set years (und natür­lich Dou­glas Adams’ long, dark teatime of the soul. Dies kön­nte der Grund sein, warum die Redewen­dung im Deutschen fremder wirkt als im Englischen.

Allerd­ings macht das die Redewen­dung im englis­chen Sprachraum nicht beliebter: die Leser der Dai­ly Mail wählten sie im Dezem­ber zur „ärg­er­lich­sten Bürofloskel des Jahres“ (der oben zitierte Tagesspiegel-Redak­teur müsste begeis­tert sein). Diese Wahl deutet im Übri­gen auch darauf hin, dass die Redewen­dung im englis­chen Sprachraum im Bere­ich der Wirtschaft beson­ders häu­fig ver­wen­det wird, was auch die zweite eingeschobene Frage beant­wortet: in der deutschen Wirtschaftssprache ist die Redewen­dung so häu­fig, weil sie aus der englis­chen Wirtschaftssprache stammt. Der Ursprung in der Wirtschaftssprache ist auch deshalb plau­si­bel, weil in wirtschaftlichen Zusam­men­hän­gen (z.B. an der Börse) tat­säch­lich am Ende des Tages abgerech­net wird.

Bleibt die ein­gangs erwäh­nte Frage, ob die Redewen­dung neu ist oder ger­ade ein starkes Wach­s­tum durch­laufen hat. Das ist in der Tat der Fall: Ich habe im Google-Nachricht­e­nar­chiv vom Jahr 2009 an rück­wärts nach der Phrase gesucht und jew­eils den Anteil von Redewen­dun­gen an der Gesamtzahl der Ver­wen­dun­gen berech­net (die Wörter wer­den natür­lich auch häu­fig wörtlich ver­wen­det). Vor 1999 habe ich keine Ver­wen­dung der Redewen­dung mehr gefun­den. Seit 1999 steigt die Ver­wen­dung aber prinzip­iell an, wobei sie 2003 einen ersten Höhep­unkt erre­icht, danach absinkt, und in den let­zten Jahren wieder ansteigt. Die fol­gende Grafik zeigt dies:

<img class=“center” alt=“Häfigkeit der Redewen­dung am Ende des Tages im Google-News-Archiv” title=“Häfigkeit der Redewen­dung am Ende des Tages

Auf der Grafik habe ich außer­dem dargestellt, wie häu­fig in dem betr­e­f­fend­en Jahr metasprach­liche Kom­mentare zur Redewen­dung vorkom­men. Dabei habe ich sowohl neben­bei gemachte Bemerkun­gen (4) oder Anführungsze­ichen (5) mit­gezählt, als auch Glossen, die sich direkt mit dem Phänomen auseinandersetzen:

  1. Am Ende des Tages aber, so sagen wir’s gern neu-denglisch und so passte es auch nach zehn lan­gen Stun­den, sah die Real­ität weitaus nüchtern­er aus. [Tagesspiegel, 22.10.2003]
  2. Doch «am Ende des Tages» zählt für sie und viele andere Mark­t­teil­nehmer vor allem eine Stimme: jene von Alan Greenspan. [NZZ, 16.7.2003]

Inter­es­sant ist hier, dass solche metasprach­lichen Sig­nale anfänglich rel­a­tiv häu­fig sind, dann sel­tener wer­den während die Ver­wen­dung­shäu­figkeit der Redewen­dung stark ansteigt, und erst danach wieder häu­figer wer­den. Diese Entwick­lung ließe sich möglicher­weise wie fol­gt erk­lären. Wenn eine Redewen­dung neu in eine Sprache kommt, wirkt sie durch ihre Neuar­tigkeit fremd und wird von den Mit­gliedern der Sprachge­mein­schaft bemerkt und kom­men­tiert. Je stärk­er sie sich durch­set­zt, desto nor­maler wirkt sie. Durch ihre Häu­figkeit wird es aber auch wahrschein­lich­er, dass sie einem pro­fes­sionellen Sprach­nör­gler auf­fällt und von ihm kom­men­tiert wird und dass diese Kom­mentare dann anderen Sprach­nör­glern (und den Lesern von Sprach­glossen) plau­si­bel erscheinen.

Wenn der in der Grafik dargestellte Ver­lauf typ­isch ist, würde er das zen­trale Dilem­ma aller Sprachkri­tik zeigen: diese ver­sucht sprach­liche Phänomene immer erst dann zu unterbinden, wenn sie für die Mehrheit der Sprachge­mein­schaft zu einem fes­ten Bestandteil der Sprache gewor­den sind.

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