Von r, Nasalstrichen und Häkchen

Von Kristin Kopf

Ich trage seit Urzeit­en die Kind­heit­serin­nerung mit mir herum, dass ich lange Zeit dachte, die Goten bei Aster­ix und die Goten hät­ten einen Sprach­fehler, weil sie immer f statt s sagten. Wer’s nicht ken­nt: Die Goten “sprechen” in Frak­turschrift. Das ist eine soge­nan­nte “gebroch­ene Schrift”, die neben dem run­den <s> auch das lange <ſ> besitzt. (Die Verteilung ist ganz grob: Sil­be­nan­fang und ‑mitte <ſ>, Sil­be­nende <s>.) Nun habe ich eben ein­mal nach einem Beispiel gegooglet und ent­deckt, dass die Erin­nerung wohl falsch ist: In den Comics wird immer das <s> benutzt. Hier z.B. müsste das <ſ> in <marschieren>, <ist> und <Lust> ste­hen und auch hier ist es nir­gends zu find­en. Eine vom heuti­gen Stand­punkt aus leser­fre­undliche Entscheidung.

Dass <ſ> und <f> sich in gebroch­enen Schriften sehr ähn­lich sehen, ist ja recht weit ver­bre­it­etes Wissen:

nit vstopf­fē lassē

r gegen r!

Aber wusstet Ihr, dass es zwei Schrei­bun­gen von <r> gab? Schaut mal:

…/deßhalben sol man sich daruor hüten/vnd sonderlich/vor grossem zoren/Vnmuot/Sorgfeltigkayt/vnnd forchte des todts

Das nor­male (blaue) <r> hat einen graden Strich, von dem ein klein­er abge­ht, das andere (orange) <r> ist ein Häkchen. Entsprechend nen­nt man es auch “run­des r”. Seine Urheimat scheint sich nach dem <o> zu befind­en (aber <Sorgfeltigkayt>!). Prinzip­iell kann es auch nach einem nor­malen <r> auftreten, dieser Text hier macht das aber nicht. Eben­falls möglich ist es nach anderen Buch­staben, die ähn­lich dem <o> einen Bauch haben:

h d b (hat übri­gens auch noch eine zweite Aus­prä­gung!) p w v

(Je nach Schrif­tart wäre <y> auch noch ein Kan­di­dat.) In meinem Beispiel­text ist das runde <r> bish­er außer nach <o> nur noch nach <p> vorgekom­men, allerd­ings nicht konsequent:

spricht, pringt ‘bringt’

Im Gegen­satz zu den bei­den <s>-Varianten verzicht­en viele (vor allem spätere) Texte auf das runde <r> und da es sich viel weniger von seinem Geschwis­terchen unter­schei­det als das <ſ> vom <s>, ist es dort, wo es vorkommt, für heutige Leser viel schneller zu entziffern.

Wo wir grade beim Entz­if­fern sind: Es gibt da noch so ein paar Tricks, die diese alten Texte drauf haben. Am häu­fig­sten sind wohl zwei Abkürzungsstrate­gien: der Nasal­strich und der r‑Haken.

Der Nasalstrich

Der Nasal­strich ist ein Strich (manch­mal auch eine Tilde), der anzeigt, dass man einen Nasal – also <n> oder <m> – wegge­lassen hat. Er wird über den vorherge­hen­den Buch­staben geset­zt, wie hier:

Man möchts auch alle morgē nüchterē essē/bewart vō aller vgifftūg Es seindt auch etliche ding wie dā Alber­tus mag…

In den meis­ten Fällen erset­zt er ein <n> (morgen, nüchteren, essen, von, vergiff­tung) oder ab und an auch mal zwei (dann). Er kann aber auch für ein <d> in der Kom­bi­na­tion <nd> ste­hen. Das ist fast nur bei <vn(n)d> ‘und’ der Fall:

…/vnnd das auff ain gluet gelege vñ die wonung damit bereuchen Mor­gens zu Mit­tag vñ Abents/Doch das der­rauch nit zu groß vñ star­ckh sey. …

Auch möglich ist, dass er eine ganze Endung erset­zt, also z.B. <en>. Dafür habe ich hier keine Beispiele, aber ander­swo taucht es regelmäßig auf.

Den Nasal­strich habe ich noch vor weni­gen Jahren in Aktion gese­hen, und zwar auf handgeschriebe­nen Noten­blät­tern im tief­sten Sieben­bür­gen. Dort waren <nn> und <mm> kon­se­quent so abgekürzt.

Der r‑Haken

Gele­gentlich verkürzte man auch <r>-haltige Ele­mente, also <r> + irgen­deinen Vokal, indem man ein winziges Häkchen über den vor­ange­hen­den Buch­staben set­zt. Beson­ders beliebt bei <der> oder <oder>:

… in lil­gen od(er) gemainem paumöll (…) in wass­er gesot­tē darin wolln od(er) Schwäm­blen genetzt …

Und ich bilde mir ein, dass der Minipunkt hier auch ein r‑Haken ist, also <vergiff­tung>:

 

Man möchts auch alle morgē nüchterē essē/bewart vō aller v(er)gifftūg Es seindt auch etliche ding wie dā Alber­tus mag…

<u> und <v>

Zuguter­let­zt noch etwas ganz enorm Nüt­zlich­es: <u> und <v> sind in älteren Tex­ten nicht so verteilt wie heute! Statt dessen lautet die Regel grob: Egal welch­er der bei­den Laute gemeint ist, am Wor­tan­fang ste­ht immer <v> und in der Wort­mitte immer <u>. Daher in den Schnipseln oben <vnd> für und und<Vnmuot> für Unmut neben dem erwarteten <v[er]gifftūg> . Und umgekehrt <daruor> für davor neben dem erwarteten <auch>. Oder <Nachuolgentte> für Nachvol­gende Nach­fol­gende:

dise Nachuol­gentte stuck

Alles klar? Ich schenke euch noch zwei gemeine Klein­buch­staben, und dann kann’s mit dem Lesen losgehen 😉

 

k x

Lektüre

Ich habe natür­lich etwas inhaltlich Span­nen­des aus­ge­sucht: Es geht um die “Unkeuschheit” und darum, wer sie wann betreiben sollte. Ich ver­mute stark, dass Selb­st­be­friedi­gung gemeint ist:

Quelle: Alle Textbeispiele stam­men aus Ord­nung vnd Reg­i­ment wider die erschrock­lichen kranck­haut der Pesti­lentz …, gedruckt 1533 in Regens­burg (zum VD16-Ein­trag).

4 Gedanken zu „Von r, Nasalstrichen und Häkchen

  1. von Karnstein

    Wieder sehr schön gemacht, bin froh über deinen Blog gestolpert zu sein 🙂

    Aber inhatlich:
    In Karin Schnei­ders (sehr empfehlenswertem!) Buch “Paläographie/Handschriftenkunde” weist sie darauf hin, dass das runde r im späteren 13. Jahrhun­dert sog­ar nach a auf­tauchte, wohl immer noch als Ligatur.
    Sind deine Beispiele Drucke? Ich erkenne es nicht so genau… Dass dort irgend­wann ein buntes mis­chen der For­men aufkam ist ja nicht ver­wun­dertlich — ich meine, sog­ar am Wor­tan­fang schon run­des r gese­hen zu haben…

    Inter­es­sant finde ich in diesem Kon­text aber auch das klein geschriebene Majuskel-r im Aus­laut, dass wohl in karolingis­chen Schriften aufkam und vere­inzelt bis ins späte 13. Jahrhun­dert auf­tauchen kon­nte (Schnei­der zeigt ein Beispiel aus dem ersten Vier­tel des 13. Jh., Cgm 5256, Bl. XXIra).

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    1. Kristin Beitragsautor

      Hey, danke für das Lob!

      Ja, die Vor­lage ist ein Druck. (Ste­ht auch in der Quellenangabe.)
      Ich habe bewusst die Entste­hungs­geschichte der ganzen Dinger aus­ge­blendet, weil’s dann zu umfan­gre­ich gewor­den wäre. (Und auch, weil ich mich da nicht sooo auskenne. Habe vor Ewigkeit­en mal bei einem Work­shop mit­gemacht, aber es scheinen keine Schriftzeug­nisse über­lebt zu haben.)
      Die Neuau­flage des empfehlenswerten Buch­es ist bei uns “zur Erwer­bung bestellt”, ich merk’s mir mal men­tal vor 🙂

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