In den letzten Tagen sind mir noch tausend Spielereien eingefallen, die man mit Ngrams machen kann. Unter anderem lässt sich damit recht gut sichtbar machen, wie schnell orthographische Standardisierung und Änderung sich in Büchern durchsetzen konnten.
Wichtige Zeitpunkte sind dabei zum einen die II. Orthographische Konferenz (1901, dazu im Schplock hier und hier), bei der erstmals eine verbindliche Rechtschreibung festgelegt wurde, und zum zweiten die Rechtschreibreform von 1996.
Standardisierung 1901
1901 wurde z.B. das <h> aus <th> in deutschen Erbwörtern beseitigt: Von <Thal> zu <Tal>, von <Muth> zu <Mut> usw. (Während es in Fremdwörtern wie <Orthographie> bleiben durfte.) Bis dahin gab es keine einheitliche Regelung, es kamen also beide Formen vor.
Bei manchen Wörtern stand es zum Zeitpunkt der Konferenz fast unentschieden, so z.B. bei <Rath> und <Rat>: Schon im Jahr 1900 hatte <Rat>, das seit 1880 stete Zunahme zu verbuchen hatte (vielleicht infolge der insgesamt wenig erfolgreichen I. Orthographischen Konferenz), seinen <h>-Kollegen knapp überholt. Hier schrieb die Konferenz also die modernere Form fest, die sich gerade durchgesetzt hatte. (Ähnlich verhält sich auch <Mut(h)>.)
Bei anderen Wörtern war die II. Konferenz wohl ausschlaggebend. So setzt der Wechsel von mehrheitlich <thun> zu <tun> erst Mitte 1901 ein. Der ganze Prozess dauerte nicht einmal zwei Jahre, spätestens 1903 hat die neue Form die alte zurückgedrängt:
Eine verwickelte Sache ist die <ss/ß>-Schreibung. Bei <muß> vs. <muss> zeigt sich zwischen 1860 und 1900 eine temporäre Vorherrschafft von <muss>. Ähnlich, aber schwächer, bei <Haß> und <Hass>.(Die Suchbegriffe <mufz> und <mufs> decken die Texterkennungsfehler ab, bei denen das lange ſ als <f> analysiert wurde. Das permanente niedrige <ss> von 1920 bis 1996 ist wahrscheinlich schweizerischen Texten geschuldet.)
Schon damals konkurrierten zwei Modelle zur <ss/ß>-Schreibung, nämlich das von Adelung (<daß>) und das von Heyse (<dass>). Im entsprechenden Wikipediaeintrag steht, dass die Heyseregel von 1879 bis 1901 in Österreich in der Schule unterrichtet wurde (Es würde mich jedoch wundern, wenn alle <ss>-Fälle daher kämen, die Schweiz scheint ja auch nicht so stark zu Buche zu schlagen.), Adelung sonst aber dominierte. 1901 setzte sich dann auf der Konferenz die adelungsche Regelung duch.
Die Integration von fremdem <c>mit <k> oder <z> sieht man auch schön als Konferenzfolge: <central> zu <zentral> und <Accent> zu <Akzent>. Bei <Cognac> und <Kognak> hat sich heute lustigerweise wieder die alte Schreibung durchgesetzt (werbewirksam und frankophil).
Natürlich gab’s solche Anpassungen auch schon vor der Konferenz, <Redakteur> hatte 1901 das Rennen schon längst für sich entschieden.
Neue Rechtschreibung
Beim oben verlinkten <muss/ß> und <Hass/ß> ist am Ende des Zeitraums zu erkennen, dass sich die jetzt (wieder) aktuelle Schreibung mit <ss> allmählich durchsetzt. Allerdings doch etwas zögerlich: Für <muss> so Mitte 2001, für <Hass> ca. 2003. Auch das superfrequente <dass> war übrigens nicht schneller, es ist seit 2002 die häufigere Variante.
Die neue <ss/ß>-Schreibung – als wohl unumstrittenstes Element der Reform – setzt sich also zwar zögerlich, aber doch sicher durch und dominiert Anfang des 21. Jahrhunderts.
Super sieht’s auch für das obligatorische <platzieren> und <nummerieren> aus, bei denen die Schreibung des Verbs an die des Substantivs angepasst wurde. Bei der Getrennt- und Zusammenschreibung hat sich das mittlerweile allein mögliche <Rad fahren> ganz schön breitgemacht.
Dort, wo man die Schreibweise freistellt, ist natürlich eine zögerlichere Zunahme zu betrachten. So sind <aufwändig> und der <Delfin> zwar im Kommen, ihre Vorreformkonkurrenten sind aber momentan noch häufiger. Andere Angebote, meist aus dem Fachwortschatz, werden völlig ablehnt, so z.B. das <Fonem>. Was auch irgendwo zu erwarten war.
Meine ganzen Beispiele hier sind alle ziemlich willkürlich gewählt, gerade aus denen von 1996 sollte man daher keine Schlüsse zum Durchsetzungsstand der Reform in Büchern ziehen.
Dass die Konferenz von 1901 so schnellen Niederschlag im Buchdruck gefunden hat, liegt wahrscheinlich daran, dass man eine einheitliche Regelung wirklich wollte und bis dahin keine Alternative hatte.
Gegen die Reform von 1996 gab es hingegen große Widerstände, die sich z.B. auch darin zeigten, dass bestimmte Autoren oder gar ganze Verlage zunächst an der alten Rechtschreibung festhielten. Das erklärt, denke ich, die etwas verzögerte Sichtbarkeit.
Hallo Kristin,
das sind ja teilweise wirklich schöne Diagramme und Ergebnisse, alle Achtung! Und die Sache mit der ß/ss-Schreibung, etwa bei daß/dass, zwischen 1860 und 1900 ist schon interessant … werde bei Gelegenheit auch einmal versuchen, die Gründe dafür herauszufinden.
Viele Grüße
Michael
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Ich bin zufaellig auf diese Seite gestossen.
Ich habe vor kurzem eine Arbeit zum Thema der Rechtschreibreform von 1996 verfasst, die in Kuerze erscheinen wird und deren Ergebnisse sich doch ein wenig von den hier beschriebenen Akzeptanz-Verlaeufen unterscheiden (insb. Schnelligkeit der Durchsetzung des ‑ss‑, Trend bei aufwändig, etc.)
Allerdings hatten wir als Datengrundlage Zeitungstexte. Das preprint steht hier: http://www.adiuvaris.eu/publications/spellingReform_final.pdf