Österreichische Wörterwahlen

Von Anatol Stefanowitsch

Während die Wörter­wahlen 2012 in Deutsch­land mit dem Jugend­wort des Jahres ger­ade erst begonnen haben, ist Öster­re­ich schon fer­tig: Auf einen schlag gab die Forschungsstelle Öster­re­ichis­ches Deutsch an der Uni­ver­sität Graz heute das Wort des Jahres, das Unwort des Jahres, das Jugend­wort des Jahres und den Ausspruch des Jahres 2012 bekan­nt (PDF).

Wort des Jahres wurde Ret­tungs­gasse, ein in Öster­re­ich Anfang des Jahres neu einge­führtes Wort für die Pflicht von Autofahrer/innen, bei Unfällen eine Gasse für Ret­tungs- und Polizeifahrzeuge zu bilden, indem sie rechts oder links an den Straßen­rand fahren. „Da dies nicht immer funk­tion­iert und die Anwen­dung der Bes­tim­mungen als ver­wirrend emp­fun­den wurde, ist das Wort sei­ther in aller Munde und Gegen­stand von Diskus­sio­nen“, stellt die öster­re­ichis­che Wörter­jury fest. „Das Wort selb­st ist im pos­i­tiv­en Sinne mehrdeutig, da es als ‘Gasse, durch die man gerettet wird’ bzw. ‘Gasse, durch die die Ret­tung kommt’ ver­standen wer­den kann.“ Spez­i­fisch öster­re­ichisch sei der Aus­druck, weil nur in Öster­re­ich das Wort Ret­tung neben dem Ret­ten bzw. Gerettetwer­den auch den Ret­tungs­di­enst oder den Ret­tungswa­gen beze­ich­nen könne.

Unwort des Jahres wurde Unschuldsver­muteter, eine „gen­uin öster­re­ichis­che“ Wort­bil­dung, die sich aus ein­er Adjek­tivierung des Wortes Unschuldsver­mu­tung mit anschließen­der Ableitung zu ein­er Per­so­n­en­beze­ich­nung ergebe (wobei ich ergänzen möchte, dass das hypo­thetis­che Adjek­tiv unschuldsver­mutet sich ja sein­er­seits aus dem Verb unschuldsver­muten ableit­en müsste). Tat­säch­lich find­en sich auf öster­re­ichis­chen Web­seit­en aber nur eine Hand­voll Tre­f­fer für dieses Verb, aber ein paar Hun­dert für das Adjek­tiv. Zum Unwort wird dieses mor­phol­o­gisch höchst inter­es­sante Wort aber durch seine Bedeu­tung: es bewirke „ein­er­seits eine Vorverurteilung, verschleier[e] diesen Umstand jedoch zugle­ich, weil ja aus­ge­drückt [werde], dass es sich um einen Unschuldigen han­delt.“ Ich kann dieser Logik nicht fol­gen, denn diese Bedeu­tung­sprob­lematik steckt ja bere­its in dem Wort Unschuldsver­mu­tung, das dann kon­se­quenter­weise gle­ich mit verun­wortet wer­den müsste.

Jugend­wort des Jahres wurde lei­der geil, eine ver­glichen mit dem deutschen Jugend­wort des Jahres her­vor­ra­gende Wahl, da der Aus­druck erstens tat­säch­lich von Jugendlichen und zweit­ens über­haupt außer­halb von Twit­ter ver­wen­det wird. Die öster­re­ichis­che Wörter­jury erken­nt nei­d­los die bun­des­deutsche Herkun­ft des Aus­drucks an („[e]s ist der Titel eines pop­ulären und humor­vollen Songs der Gruppe Deichkind“), wählt es aber wegen der „Qual­ität“, die es „durch den aus­ge­drück­ten Gegen­satz neg­a­tiv-pos­i­tiv bekommt“. Aus mein­er Sicht, wie gesagt, eine gute Wahl.

Einen Anglizis­mus des Jahres ken­nen die öster­re­ichis­chen Wort­beauf­tragten nicht, dafür aber einen „Öster­re­ichis­chen Ausspruch des Jahres“. Das wurde in diesem Jahr der Satz „Ich trete nicht zurück, ich mache den Weg frei“ der grü­nen Poli­tik­erin Gabriele Moser, die durch poli­tis­che Machtkämpfe gezwun­gen wurde, ihren Posten als Vor­sitzende des Kor­rup­tions-Unter­suchungsauss­chuss­es aufzugeben. Mit ihrem Rück­tritt, find­et die Jury, habe sie „demokratis­che Reife“, mit ihrer For­mulierung „sprach­liche Ele­ganz“ bewiesen. Mir gefällt dieser Satz auch, und deshalb beende ich jet­zt nicht etwa unver­mit­telt diesen Beitrag, son­dern ich mache den Weg frei für Ihre Kommentare!

13 Gedanken zu „Österreichische Wörterwahlen

  1. Muriel

    Ich finde “Unschuldsver­mu­tung” ja über­haupt einiger­maßen miss­glückt. Die Ver­mu­tung, jemand sei unschuldig, ist vol­lkom­men über­flüs­sig, und es geht in einem Strafver­fahren ja auch nicht darum, die Unschuld eines Men­schen zu über­prüfen, son­dern nur um die Frage, ob ihm Schuld nachgewiesen wer­den kann oder nicht.
    Ich muss zwar ein­räu­men, dass “fehlen­der Nach­weis der Schuld” oder “noch nicht erwiesen­er­maßen Schuldiger” deut­lich weniger han­dlich wären als das hier kri­tisierte Unwort, sehe aber ander­er­seits auch gar keinen Bedarf für ein spezielles Wort dafür, denn es ist ja der Nor­malzu­s­tand des ganz über­wiegen­den Großteils der Bevölkerung. Oder wie?

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  2. Torsten

    Ist “Ret­tungs­gasse” nicht schon seit Ewigkeit­en der Aus­druck für genau das Selbe in Deutsch­land? Ich bin mir ziem­lich sich­er, dass ich es in der Fahrschule hat­te. Daher würde ich das vielle­icht nicht unbe­d­ingt spez­i­fisch öster­re­ichisch nennen.

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  3. Jim

    @Muriel und in Sachen Unschuldsvermuteter:
    Der Begriff Unschuldsver­mu­tung ist mE eben der Ter­mi­nus Tech­ni­cus für das was hier als “nor­mal” angenom­men wird, näm­lich dass man die Schuld und nicht die Unschuld beweisen muss. Das ist keineswegs selb­stver­ständlich, son­dern ein­er der Eckpfeil­er unseres Rechtssystems!
    Als Fachaus­druck entzieht sich die U. jedoch mE weitest­ge­hend der Inter­pre­ta­tion über die reine Wortbe­deu­tung hin­aus, und die ist nach meinem Ver­ständ­nis nur: “Auch wenn ich es nicht beweisen kann/muss gehe ich bis auf weit­eres davon aus, dass die betr­e­f­fende Per­son unschuldig ist”. Sich wäre auch Unschuld­san­nahme möglich gewe­sen, nach meinem Sprachge­fühl ist das aber auch nicht deut­lich anders in der Konnotation.
    Der Unschuldsver­mutete ist hinge­gen kein Fachaus­druck (da es eines entsprechen­den Aus­druck­es im Übri­gen wohl auch nicht bedarf. Die U. trifft ja eben ger­ade auf jeden zu), son­dern eine Wortschöp­fung die durch ihre Kon­struk­tion deut­lich her­aussticht, und durch diese Über­be­to­nung gewisse unan­genehme Beik­länge hat, die dem Ursprungswort abgehen…

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  4. Jim

    Fällt mir ger­ade noch auf: Heißt das Ding in Deutsch­land nicht auch Ret­tungs­gasse? Die StVO spricht aus­drück­lich davon “eine freie Gasse [zu]bilden”, was ich für das unübliche der bei­den Worte halte…

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  5. Hannah

    Warum der Begriff Ret­tungs­gasse in Öster­re­ich zum Wort des Jahres gewählt wurde, ist doch im Artikel erk­lärt? Es muss ja nicht immer ein völ­liger Neol­o­gis­mus sein — im öster­re­ichis­chen Sprachge­brauch jeden­falls hat das Wort schließlich vor 2012 ver­mut­lich nur bei Deutsch­landurlaubern eine Rolle gespielt.

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  6. MCBuhl

    Ein Wort “verun­worten”. Schön­er Neol­o­gis­mus. Mit meinem Google-Pro­fil finde ich da son­st fast nur Belege in der Tageszeitung Augsburgs.

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    1. Muriel

      @Jim: Ich weiß schon, was die Worte bedeuten, und warum das eine gute Sache ist.
      Ich finde sie nur unglück­lich gewählt, weil die Ein­sicht, dass jemand nur verurteilt und bestraft wer­den sollte, nach­dem seine Schuld bewiesen wurde, eben keine Ver­mu­tung sein­er Unschuld voraus­set­zt. Unschuld­san­nahme hätte also genau das gle­iche Prob­lem, weil sie genau das gle­iche mar­gin­al irreführende Ver­ständ­nis vom Funk­tion­ieren unseres Strafrechts impliziert.

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  7. mimamade

    Zu den Unschuldsver­muteten eine Überlegung:
    In den schlim­meren Schmierblät­tern hat es sich beson­ders bei spek­takulären Todes­fällen etabliert, erst drama­tis­che Schilderun­gen der Geschehnisse zu liefern, ganz ohne Kon­junk­tiv oder son­stige Rel­a­tivierun­gen, um den Artikel dann zu schließen mit “Es gilt die Unschuldsvermutung”.
    (In dieser schö­nen Zusam­men­schau, die ich nun wirk­lich nur aus Grün­den des Amuse­ments ver­linke, kommt die Phrase immer­hin vier mal vor.)
    Das Googeln nach Beispie­len offen­barte ger­ade auch, dass diese For­mulierung 2010 selb­st schon Unwort war… http://derstandard.at/1291454664724/
    Diese “Zeitun­gen”, “Heute” und “Öster­re­ich” näm­lich, liegen typ­is­cher­weise zumin­d­est in Wien und Graz gratis in den Öff­is auf und wer­den von enorm vie­len Men­schen gele­sen, die son­st eher andere Infor­ma­tion­squellen wählen würden.
    In ein­er all­t­agssprachge­fühlsmäßi­gen Deu­tung wäre ein/e Unschuldsvermutete/r (ich hab das Wort übri­gens noch nie gehört) für mich eine Per­son, auf die eben wie in diesen Artikeln pro for­ma und ohne jegliche Überzeu­gung die Unschuldsver­mu­tung ange­wandt wer­den muss. Oder eine, die eben dieser Berichter­stat­tung zum Opfer gefall­en ist. Über­rascht wäre ich, den Aus­druck in einem halb­wegs neu­tralen Zusam­men­hang zu hören.
    (Wie es tat­säch­lich ver­wen­det wird kon­nte ein schnelles herum­suchen mir nicht sagen, da die ersten paar Seit­en sich alle auf seinen Unwort­sta­tus beziehen.)

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  8. Sprachenverwender

    Dass Ret­tung in Öster­re­ich den Ret­tungs­di­enst beze­ich­nen kann glaube ich sofort, aber wenn es sich auf den Ret­tungswa­gen bezieht, dann ist doch auch der Ret­tungs­di­enst gemeint, oder nicht?
    So wie in “ich muss rechts ran­fahren damit die Ret­tung durchkommt”, aber doch nicht “der Ver­let­zte wird in die Ret­tung geladen”?

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  9. mimamade

    Das kann schon so stim­men, dass “Ret­tung” eher den Ret­tungs­di­enst beze­ich­net und eben öfter vom Ret­tungs­di­enst gesprochen wird als von einzel­nen Ret­tungsautos. Freche, ungetestete Behaup­tung: Das wird aber nicht so wahrgenom­men. Und, angenom­men, das würde stim­men, wäre ich ein wenig ver­wirrt: Wenn ich eigentlich eh immer nur vom Ret­tungs­di­enst spreche bzw sich das prob­lem­los so lesen lässt, ich aber auch der fes­ten Überzeu­gung bin, immer einzelne Fahrzeuge zu meinen, gibt es dann ein tolles Wort für den Zusam­men­hang? Oder, anders: Kann ich Aus­drücke als synek­dochisch (o.ä.) beze­ich­nen, wenn ich das nicht müsste, um zu erk­lären, wie das Wort dort hin kommt? (Hah, hier zumin­d­est darf ich das.)
    Abge­se­hen davon meine ich übri­gens, öfters von Geburten zu hören, die “noch in der Ret­tung” stat­tfan­den, und wenn ich das nicht kom­plett falsch ver­ste­he und alle anderen damit den Prozess des Gerettetwer­dens meinen, geht es da wohl um das Auto.

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  10. Pingback: Fragen Sie Dr. Bopp! » Die Wörter des Jahres 2012

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