Echolotta hat kürzlich bei Twitter gefragt:
Wieso gähnt die Leere eigentlich?
— Echolotta (@echolotta) November 30, 2012
Und weil mir keine philosophisch-amüsante Randbemerkung von maximal 130 Zeichen eingefallen ist ((Ja, ich weiß, 140, aber @Echolotta kostet auch schon 10 …)), habe ich beschlossen, die Frage hier in epischer Länge und wörtlich anzugehen.
Bei der gähnenden Leere liegt eine feste Verbindung zweier Wörter vor. Sie tritt in Sätzen wie es herrschte gähnende Leere auf und drückt dann aus, dass nichts oder niemand anwesend oder vorhanden ist (s. rechts).
Wie fest diese Verbindung eigentlich ist, lässt sich nicht nur intuitiv feststellen, sondern auch empirisch überprüfen. Dazu macht man eine sogenannte »Kollokationsanalyse«, man schaut nach, welche Wörter in einer großen Textsammlung besonders häufig miteinander auftreten. Das geht zum Beispiel recht komfortabel über das DWDS.
Da erfährt man dann, dass gähnend das Adjektiv ist, das Leere in den allermeisten Fällen modifiziert (danach folgt erst mit großem Abstand die innere Leere) – und dass auch umgekehrt Leere das Substantiv ist, das am öftesten von gähnend begleitet wird (danach folgt mit noch größerem Abstand die Langeweile): ((Hier Leere eingeben und im Kasten »Wortprofil 2012« nachschauen, da als Wortart »Substantiv« wählen (linkes Diagramm) bzw. gähnend eingeben und »ist Adjektivattribut von« wählen (rechtes Diagramm). Eine Erklärung des Wortprofils gibt es hier. Was meine Suche natürlich nicht abdeckt, sind verbale Formulierungen wie die Leere gähnt bedrohlich, denn dort gähnt bereits der Schlund o.ä.))
Aber warum?
Dass diese beiden Wörter etwas miteinander haben, lässt sich also nicht nur fühlen, sondern auch zeigen. Nun stellt sich aber die Frage, warum es hier eine derart enge Verbindung gibt.Das Wort gähnen geht wohl – die folgenden Informationen stammen aus Pfeifer – auf eine indogermanische Wurzel *g̑hēi‑, *g̑hē- ‘gähnen, klaffen, offenstehen’ zurück, die vielleicht lautmalerisch das Gähnen nachahmte. Ebenfalls damit verwandt sind die griechischen Wörter chásma (χάσμα) ‘klaffende Öffnung’, vielleicht bekannter als engl. chasm, und cháos (χάος) ‘leerer Raum, Luftraum’.
Daran lässt sich die Leere auch gut anschließen – zumindest scheint mir das sehr plausibel: Ein gähnender Abgrund oder Schlund stellt eine klaffende Öffnung dar. In der ist ja nichts drin, ergo ist sie leer. Man wechselt also die Perspektive, so ungefähr:
Eine moderne gähnende Leere kann allerdings nicht nur da herrschen, wo eine wie auf immer geartete Öffnung klafft – man denke an Belege wie
- Im Abgeordnetenhause ging gestern — bei gähnender Leere — die Beratung des Etats der Staatsbergwerke vor sich. (1917)
- Und die rechte Spur? Gähnende Leere — ab und an ein Radfahrer, nur verschwindend wenige Kraftfahrer benutzen die rechte Spur. (1971)
- Taxis, hieß es dort, ständen vor dem Bahnhofseingang, auf dem Vorplatz jedoch herrschte gähnende Leere. (2003)
(Via DWDS.)
Ein Haus kann man immerhin noch als eine Art Behälter konzipieren, mit einer Fahrspur und einem Platz wird es dann schwierig.
Seit wann kann die Leere gähnen?
Zur Bestimmung des Alters der Wendung habe ich leider nur einen ganz kleinen Anhaltspunkt: Das Substantiv Leere ist im Deutschen erst seit dem 16. Jahrhundert in Gebrauch. Älter kann die Wendung also schlecht sein.
Ich habe mal im DWB, das ja immer viele Belege auflistet, eine Suche nach gähnend* durchgeführt, in der Hoffnung, dabei auch eine Leere zu finden. War leider nix, aber gesichtet habe ich neben den erwartbaren Menschen und Körperteilen auch gähnende …
- … Öffnungen: Grab, Untiefe, Zwischenraum, Spalt, Abyss, Rohr (einer Waffe), Tor, Höllenrachen, Gestein und
- … abstrakte Konzepte: Zeitvertreib (bei Klopstock), Schlund der Langeweile (bei Schiller)
Das hilft jedoch nichts dabei, herauszubekommen, wann und unter welchen Umständen die gähnende Leere entstanden sein könnte.
Auch eine Suche in den digitalisierten Büchern von GoogleBooks hat nur bedingt weitergeholfen. Es finden sich zwar Belege für das 19. Jahrhundert (z.B. dieser), aber Suchen in früheren Zeiträumen scheinen technisch nicht zuverlässig zu sein. ((Gibt man einen Zeitraum manuell vor, so wird für das 19. Jh. nichts gefunden, wählt man hingegen die vorgegebene Suchoption »19. Jahrhundert«, so tauchen Treffer auf. Da es für das 18. Jh. keine vorgegebene Suchoption gibt, sondern nur eine manuelle Zeitraumeingabe, hat es nichts zu bedeuten, dass sich hier keine Treffer finden lassen.)) Falls also jemand von irgendwo zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert Belege für mich ausgraben können sollte: Ich wäre sehr glücklich!
Was anderswo GähnT
Kürzlich bin ich in diesem Artikel zufällig auf ein Beispiel dafür gestoßen, dass auch im Englischen Öffnungen ‘gähnen’ können, wie z.B.
This ideological chasm between the American Left and its putative constituency yawns nowhere wider than …
(‘Diese ideologische Kluft zwischen der amerikanischen Linken und ihrer vermeintlichen Wählerschaft gähnt nirgends weiter als …’; meine Übersetzung)
Im Prinzip ist das wenig verwunderlich, da die Bedeutung ‘klaffen’ ja bereits für das Indoeuropäische angesetzt wird. Das englische to yawn ist nämlich mit unserem gähnen verwandt. Das sieht man heute nicht mehr so gut, aber im Altenglischen hieß es noch gi(o)nian, was seinem althochdeutschen Schwesterwort ginen doch erkennbar ähnelt. ((Der Hauptunterschied, das y im Anlaut, ist einem späteren Lautwandel im Englischen geschuldet, wie auch:
yester(day) – gestern
yell – gellen
yellow – gelb
yard – Garten
yarn – Garn
))
Nun hat es mich interessiert, ob das im Englischen nicht nur für Öffnungen, sondern auch für die darin befindlichen Nichtse klappt, also z.B. mit dem Wort emptiness. Deshalb habe ich eine zweite Kollokationsanalyse gemacht ((Im Corpus of Historical American English, COHA.)). Die Ergebnisse legen nahe, dass to yawn und gähnen nicht völlig gleich funktionieren.
Natürlich muss man hier warnen, insgesamt gab es viel weniger Treffer (96, vs. über 1000 im Deutschen), die Zahlen sind also nicht sehr belastbar.
Dennoch sieht man, dass Bezeichnungen für Öffnungen dominieren. Die ‘Leere’ ist hingegen nicht dabei – sie findet sich erst in den ganz kleinen Zahlen. Zwei Belege spuckt COHA immerhin aus, einer von 1940, einer von 1994:
- My eyes met the same familiar and depressing sights: the yawning emptiness of cases and shelves …
- I can feel the aching, yawning emptiness in my stomach, twisting my innards into knots.
Beleg Nummer 1 (der von 1940) stammt aus einem Zeitschriftenartikel von einem gewissen Joachim Joesten – Name und Internet legen nahe, dass er Deutscher war und erst im Erwachsenenalter in die USA einwanderte. Gut möglich also, dass es sich hier um eine wörtliche Übersetzung der deutschen gähnenden Leere handelt.
Bei einer Suche in COCA für den aktuellen Gebrauch des amerikanischen Englisch finden sich noch fünf zusätzliche Belege für yawning emptiness, alle in eher literarischen Kontexten.
Ganz so selten wie diese beiden Korpora nahelegen ist die Verbindung dann aber doch nicht: Eine Suche mit dem Ngram-Viewer zeigt, dass sie in englischen Büchern (rote Linie) zwar verglichen mit dem Deutschen (blaue Linie) selten, aber doch kontinuierlich zu finden ist. Leider sind die zugrundeliegenden Belegstellen aber nicht zugänglich.
Die Verbindung der beiden Wörter scheint also im Englischen durchaus möglich zu sein, allerdings erreicht sie nicht die hohe Idiomatizität, die sie im Deutschen hat.
Quellen:
- Oxford University Press: OED Online.
- Pfeifer, Wolfgang (1993): Etymologisches Wörterbuch des Deutschen. 2. Aufl. 2 Bde. Berlin.
Von wegen anonyme Baustelle irgendwo in Deutschland. Das ist der SoWi-Neubau an der Uni Mainz!
Ansonsten bedanke ich mich für den interessanten Artikel, der eine alltägliche Wendung mal anders beleuchtet!
Psssst, nicht dass jemand von der Perspektive des Fotos auf die Lage meines Büros schließen kann! 😉
Ich weiß wieder, was ein Linguistikstudium wert ist und warum es soviel Spaß macht … Vielen Dank für diese Recherche! /@echolotta
Es lebe das lebendige Wort. Wenn es tot wäre, wäre es nie trefflicher seziert worden. Danke für den wunderbaren Artikel. Ich mag das sehr!
Zu lange her, dass ich mich dergestalt mit Sprachwissenschaft und entsprechenden Einträgen befasst habe.
Zu allem ‘Unglück’ habe ich meine Slavistik-Bibliothek, u.a. den Vassmer, Russisches Ethymologisches Wörterbuch, in den ich jetzt schauen wollte, in den Keller gepackt.
Mir scheint, das mit der ‘gähnenden Leere’ funktioniert auch auf Russisch, aber seit wann?
Erstaunlich ist es nicht, ob der indogermanischen Wurzel.
Im DWB habe ich noch ‘gaffen’ gefunden unter ‘gähnen’.
Was zu englisch: gape führt.
Nimmt man also nicht nur: yawning emptiness, sondern gaping emptiness, dürfte man zu wesentlich mehr Einträgen kommen für eine Übereinstimmung ‘gähnende Leere’- engl: ‘yawning/gaping emptiness’.
Wie gesagt, ich kann’s nicht fachgerecht aufdröseln oder weiterführen.
Der Grimm (ab 1838) hat übrigens auch keinen Eintrag für die Verbindung ‘gähnende Leere’.
Hier der Link zum Eintrag ‘gähnen’ im DWB:
http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GG00205
Und noch ein Link zum Linguee Wörterbuch mit Belegen zu ‘yawning emptiness’/‘gaping emptiness’:
http://www.linguee.de/deutsch-englisch/uebersetzung/g%E4hnende+leere.html
Der Hinweis auf gape ist gut, danke dafür! Ich bin beim Recherchieren auch am Rande darauf gestoßen, habe es dann aber ignoriert, weil es mir nur um Bezeichnungen mit der heutigen Bedeutung ‘gähnen’ ging — aber logisch, dass ich auch andere Wörter berücksichtigen hätte müssen, deren idg. Wurzel die Bedeutung hatte. Vielleicht checke ich das mal noch bei COCA/COHA, wenn ich Zeit habe.
Im Grimm habe ich nach gähnend* übrigens gesucht, s. oben unter der Überschrift “Seit wann kann die Leere gähnen?”