Unwort des Jahres 2013: Sozialtourismus

Von Anatol Stefanowitsch

Die „Sprachkri­tis­che Aktion“ hat das Unwort des Jahres 2013 bekan­nt gegeben: Sozial­touris­mus. Beim Sprachlog sind wir ja notorische Nör­g­lerin­nen, wenn es um ander­er Leute Wörter­wahlen geht, aber an der Arbeit der Unwort-Jury haben wir wenig auszuset­zen, seit Nina Janich, Sprach­wis­senschaft­lerin an der TU Darm­stadt, den Vor­sitz über­nom­men hat.

Um Unwort des Jahres zu wer­den, muss ein Wort „gegen das Prinzip der Men­schen­würde“ oder „Prinzip­i­en der Demokratie ver­stoßen“ oder „einzelne gesellschaftliche Grup­pen diskri­m­inieren“, und es muss „euphemistisch, ver­schleiernd oder gar irreführend“ sein. Auf das unsägliche Dön­er-Morde (2011), traf das auch aus unser­er Sicht klar zu, und auch beim per­fi­den Opfer-Abo waren wir im Prinzip ein­er Mei­n­ung mit der Jury.

Auch mit dem Wort Sozial­touris­mus beweist die Unwort-Jury wieder eine gute Hand. Es gab vielle­icht offen­sichtlichere Wörter, wie die vor­ab hoch gehan­del­ten Wort­getüme Super­grun­drecht unseres Ex-Innen­min­is­ters und Armut­szuwan­derung der eifrig am recht­en Rand fis­chen­den CSU – offen­sichtlich­er, weil in der öffentlichen Diskus­sion deut­lich häu­figer. Aber das Super­grun­drecht ver­stößt zwar in der Friedrich’schen Ver­wen­dung in ekla­tan­ter Weise gegen Prinzip­i­en der Demokratie, aber eigentlich nur, weil er es aus­gerech­net auf eine repres­sive Sicher­heit­spoli­tik bezieht. Im Prinzip spräche nichts dage­gen, bes­timmte Grun­drechte – etwa die Men­schen­würde – als Super­grun­drecht zu bezeichnen.

Ein­wen­den kön­nte man gegen den Sozial­touris­mus (wie auch gegen die Armut­szuwan­derung), dass es im let­zten Jahr keine beson­ders her­aus­ge­hobene Rolle gespielt hat – im Deutschen Ref­eren­zko­r­pus ist es 2013 nach einem Hoch im Vor­jahr klar rückläufig:

Sozialtourismus im Deutschen Referenzkorpus

Häu­figkeit des Wortes Sozial­touris­mus im Deutschen Ref­eren­zko­r­pus
(Häu­figkeit je 1 Mil­lion Wörter)

Es gelangte eigentlich erst im Jan­u­ar wieder in die öffentliche Diskus­sion, weil die EU-Kom­mis­sion im Jan­u­ar einen Leit­faden zu Regeln für die Arbeit im EU-Aus­land vor­legte, der in der Berichter­stat­tung der Medi­en als „Leit­faden gegen Sozial­touris­mus“ beze­ich­net wurde (siehe z.B. hier. Die Kom­mis­sion selb­st hat das Wort dabei aber nicht ver­wen­det und hält nach einem aktuellen Bericht der Neue Zürcher Zeitung die gesamte Diskus­sion um Armutsmi­gra­tion für verfehlt.

Der Begriff Sozial­touris­mus wurde von der EU-Kom­mis­sion selb­st ursprünglich ver­wen­det, um einen „für alle zugänglichen und sozial nach­halti­gen Touris­mus“ zu beze­ich­nen (z.B. hier (PDF)). Inzwis­chen wird es auf europäis­ch­er Ebene aber gerne von Abge­ord­neten der Europäis­chen Volkspartei und der „euroskep­tis­chen“ Frak­tion „Europa der Frei­heit und der Demokratie“ ver­wen­det, um die EU-Kom­mis­sion zu fra­gen, was man gegen dieses (nur in der Vorstel­lung von EVP-Abge­ord­neten existierende) Phänomen der Migra­tion zum Zwecke des Sozial­be­trugs zu tun gedenke: hier ein Beispiel von 2011 und hier eins von 2013 das eventuell für die aktuelle Ver­wen­dung des Wortes in der Presse ver­ant­wortlich ist.

Wir hal­ten das Wort trotz­dem für eine gute Wahl, da es – anders als das sprach­lich eigentlich eher neu­trale Armut­szuwan­derung ein­deutig ver­schleiernd und irreführend ist, da es nicht nur die Behaup­tung enthält, dass Men­schen ihre Heimat ver­lassen und in ein ihnen fremdes (und häu­fig feind­selig gesin­ntes) Land auswan­dern, um dort Sozialleis­tun­gen in Anspruch zu nehmen, son­dern das ganze auch noch mit dem Wort Touris­mus als eine Art Freizeitbeschäf­ti­gung darstellt. So wird das Schick­sal von Men­schen, die tat­säch­lich aus wirtschaftlich­er Not ihre Heimat ver­lassen, auf eine Stufe mit der Reiselust gelang­weil­ter Wohl­stands­bürg­erin­nen ((Dies ist ein gener­isches Fem­i­ninum, Män­ner sind selb­stver­ständlich mit­ge­meint.)) gestellt.

Angesichts der sink­enden Häu­figkeit des Wortes im let­zen Jahr und dem Wieder­aufkom­men erst in diesem scheint die Wahl von Sozial­touris­mus zunächst etwas vor­eilig. Da uns das gesamte unsägliche The­ma aber ver­mut­lich im Rah­men des all­ge­meinen kon­ser­v­a­tiv­en Back­lash­es, den wir derzeit erleben, ver­mut­lich noch einige Monate beschäfti­gen wird, kön­nte man auch sagen: Die Entschei­dung der Jury war vorausschauend.

8 Gedanken zu „Unwort des Jahres 2013: Sozialtourismus

  1. dingdong

    Manch­mal wün­scht man sich echt, man hätte die Unendlichkeit zur Ver­fü­gung: Unendlich viel Platz und unendlich viele Sozialleis­tun­gen und alle größeren Prob­leme der Men­scheit wären gelöst

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  2. Markus Schäfer

    Wozu unendlich viele Sozialleis­tun­gen, wenn endliche Men­gen an Ratio­nal­ität und Empathie auch schon helfen?

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  3. dingdong

    Weil das zu unre­al­is­tisch ist. Da fällt mir ein, die Wahl zum Wikipedia-Unwort des Jahres ist bald zu Ende. Die Entschei­dung wird wohl zwis­chen “Pre­mi­u­mau­tor” (Beze­ich­nung für Wiki-Autoren die wegen jahre­langer Mitar­beit eine inof­fzielle Erlaub­nis für Ver­ba­lent­gleisun­gen haben) und “Gen­der Gap” (Beze­ich­nung für den über­durch­snit­tlich hohen Män­ner­an­teil in der Wikipedia; diesen zu ver­rin­gen muss als Begrün­dung für aller­lei Blödsinn her­hal­ten) fallen.

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  5. Statistiker

    Und warum soll das unre­al­is­tisch sein?

    Mit Min­dest­lohn, aktiv­er Arbeits­mark­t­poli­tik, finanziert aus der Besteuerung nicht nach­fragewirk­samen Ver­mö­gens sowie staatlich­er Invest­tio­nen in Zeichen wirtschaftlich­er Schwäche etc. ließe sich die Notwendigkeit für Sozialleis­tun­gen deut­lich reduzieren.

    Man müsste es bloß wollen.…

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  6. Rike

    Im Prinzip spräche nichts dage­gen, bes­timmte Grun­drechte – etwa die Men­schen­würde – als Super­grun­drecht zu bezeichnen.”

    Naja, damit würde ich sehr vor­sichtig sein. Das klingt so, als sei die Men­schen­würde — und zwar nicht nur zahlen/reihenfolgenmäßig — an erster Stelle und ist wichtiger als die anderen Grun­drechte. Als näch­stes kann man dann ja mehr und mehr Grun­drechte außer Kraft set­zen (passiert ja schon), denn die sind dann ja weniger wichtig und dann gehts immer weit­er bergab. Zumal sich bspw. die Men­schen­rechte (auch im Grundge­setz: Art. 1 Abs. 2) dadurch ausze­ich­nen, dass sie unteil­bar sind. Und durch die Ähn­lichkeit von Grun­drecht­en und Men­schen­recht­en und den expliziten Bezug zu let­zteren würde ich da schon Par­al­le­len ziehen.

    siehe auch -> https://de.wikipedia.org/wiki/Menschenrechte#Unteilbarkeit

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  7. Ospero

    @Rike: Die Men­schen­würde ist laut GG im Gegen­satz zu allen anderen Men­schen­recht­en unter die Ewigkeits­garantie (Artikel 79 Absatz 3) gestellt. Sie nimmt also im Ver­gle­ich zu diesen anderen Recht­en eine deut­lich her­aus­ge­hobene Stel­lung ein. Außer­dem dient Artikel 1 Absatz 1 als Begrün­dung für Absatz 2 (“beken­nt sich darum”); auch hier wird diese her­aus­ge­hobene Stel­lung deutlich.

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  8. Pingback: Das Unwort des Jahres 2014... So what? - caretelligence.de

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