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Jenseits des Gastrechts: Sprachbilder und ihre Grenzen

Von Anatol Stefanowitsch

Als Sahra Wagenknecht let­zte Woche vom „Gas­trecht“ der Flüchtlinge sprach, und davon das der­jenige, der es miss­brauche, irgend­wann dann auch ver­wirkt habe, war die Empörungswelle vorprogrammiert.

Erstens, weil sie eben Sahra Wagenknecht und Linke nichts lieber tun als andere Linke all­ge­mein, und Wagenknecht im Beson­deren, mit Empörung zu über­schüt­ten. Schließlich hat­ten sowohl die rhein­land-pfälzis­che CDU-Vor­sitzende Julia Klöck­n­er als auch die Bun­deskan­z­lerin Angela „Wir-schaf­fen-das“ Merkel nur ein paar Tage zuvor fast wortwörtlich das­selbe gesagt, ohne dass das das kle­in­ste biss­chen link­er Kri­tik nach sich gezo­gen hätte („Wer das Gas­trecht ver­wirkt, der wird irgend­wann vor die Tür geset­zt“, Julia Klöck­n­er; „Einige Straftäter von Köln haben ihr Gas­trecht ver­wirkt“, Angela Merkel).

Zweit­ens, weil das Wort Gas­trecht einen offen­liegen­den Nerv der deutschen Flüchtlings­de­bat­te trifft, für den Wagenknecht, Klöck­n­er und Merkel eigentlich gar nichts kön­nen, son­dern der etwas mit Sprache, Welt­sicht und Wirk­lichkeit zu tun hat: der Frage, wie wir über Flüchtlinge reden und denken und worauf wir uns damit ein­lassen. Weit­er­lesen

Steile Kurven

Von Susanne Flach

Bei Streifzü­gen durch die MOOC-Welt, Sta­tis­tik­tu­to­ri­als auf YouTube oder kleinen Pro­gram­mierselb­sthil­fe­foren stoße ich in let­zter Zeit wieder­holt auf eine Wortwen­dung, die mich aber schon immer ver­wirrt hat: die steile Lernkurve oder vielmehr — da die meis­ten Onlin­eange­bote auf Englisch vorhan­den sind — die der steep learn­ing curve.

Denn ganz offen­sichtlich war­nen alle Dozieren­den davor, Kurse und Pro­gramme zu unter­schätzen: „It will be hard work, as R ini­tial­ly has a steep learn­ing curve“ (‚Es ist harte Arbeit, weil R am Anfang eine steile Lernkurve hat‘). Zu den emo­tionalen Hür­den beim Erler­nen ein­er Pro­gram­mier­sprache mach(t)e ich mir ja keine Illu­sio­nen. Was mich aber immer ver­wirrt hat, war der unklare Bezug des Adjek­tivs steil. Denn die vie­len, vie­len Ver­wen­dung von steep learn­ing curve sug­gerieren sofort, dass der Zeitaufwand (t) hoch, der Wis­sens­gewinn (w) aber anfangs frus­tri­erend ger­ing ist. Würde man das auf­malen wollen, wäre die War­nung in diesem Dia­gramm durch die grüne Lin­ie repräsentiert:

Abbil­dung 1: Steile (grün) und noch steilere (rot) Lernkur­ven
(eigene Zeich­nung).

Aber was soll an der grü­nen Lin­ie beson­ders steil sein, so zum Anfang? Zum Zeit­punkt (t) habe ich mir nur Wis­sen (w1) angeeignet. Steil ist dabei doch höch­stens die rote Lin­ie, die aber genau das Gegen­teil zeigt, näm­lich, dass man sich in kürz­er­er Zeit (t) rel­a­tiv viel Wis­sen (w2) aneignen kann. Wollen die mir mit dun­kler Wel­tun­ter­gangsstimme sagen, dass man mit wenig Zeit viel erre­icht? Dass man also vor ein­er Lernkurve warnt, weil sie schnellen Lern­er­folg verspricht?

Da stimmt doch was nicht.

Die erste logis­che Anlauf­stelle Wikipedia weiß Bescheid: dort spricht man von ein­er „akademis­chen“ Ver­wen­dung der Redewen­dung (Stoff­menge in Abhängigkeit von Zeit, rote Lin­ie) und einem umgangssprach­lichen Ver­ständ­nis, das der „akademisch als kor­rekt zu betra­ch­t­en­den Def­i­n­i­tion“ „diame­tral“ gegenüber ste­ht. Let­zteres entspricht zwar nicht ganz mein­er grünkurvig dargestell­ten Ver­wirrung, diese ist aber immer­hin diame­tral. ((Auf Wikipedia kor­re­liert man das Laien­ver­ständ­nis mit der soge­nan­nten Blender-Kurve, welche mit anderen Vari­ablen hantiert, die aber, drehte man die Achsen sin­nvoll um, in groben Kur­ven der grü­nen Lin­ie in Abbil­dung 1 entspräche.)) Ist das wirk­lich nur ein weit­eres Beispiel dafür, dass Fach- und all­ge­mein­er Sprachge­brauch nicht übere­in­stim­men, wenn auch ein beson­ders extremes?

Nein. Das Durch­forsten von Kor­po­ra und der Ver­such, learn­ing curve ein quan­ti­ta­tives Muster abzurin­gen, bringen’s ans Licht: hier wer­den Äpfel und Bir­nen als Orangen bezeichnet.

Zunächst: Die akademis­che Inter­pre­ta­tion ist zweifel­los die math­e­ma­tis­che Funk­tion w(t). Dass man von ein­er steilen Lernkurve spricht, liegt daran, dass wir das Mehr an Quan­tität (hier: Lern­er­folg) über die Zeit mit ein­er nach oben gerichteten Lin­ie mit großer ‚Stei­gung‘ illus­tri­eren. Man ken­nt diese Darstel­lung beispiel­sweise von Börsenkursen: Kurs­gewinne zeigen nach oben, Ver­luste nach unten. Solche Dia­gramm­for­men sind dabei let­z­tendlich reine Kon­ven­tion, weil man ja lediglich die math­e­ma­tis­che Abhängigkeit ein­er Vari­ablen von ein­er anderen abbildet — man kön­nte das Dia­gramm um 180° oder auch nur um 90° drehen, ohne Infor­ma­tion­s­ge­halt einzubüßen. Aber dass diese anschauliche Darstel­lung die intu­iti­vere Kon­ven­tion ist, liegt daran, dass unsere Wahrnehmung all­ge­mein von der konzeptuellen Meta­pher MEHR IST OBEN (MORE IS UP) geprägt ist, die auf Erfahrung mit unser­er Umwelt basiert: je höher der Stapel Klausuren auf meinem Schreibtisch, desto mehr habe ich zu tun. Deshalb nehmen wir diese Kur­ven als steil wahr, obwohl steil ja nur ihre Darstel­lung ist.

Der umgangssprach­lichen Ver­wen­dung für steile Lernkurve liegt eine ganz ähn­liche Moti­va­tion zugrunde, die gegenüber der hil­f­sweisen Darstel­lung der math­e­ma­tis­chen Funk­tion aber grundle­gend metapho­risch ist. Was meinen wir damit? Schauen wir zur Erk­lärung mal ein paar Beispiele aus dem Cor­pus of Con­tem­po­rary Amer­i­can Eng­lish (COCA) an:

Over­all, you’ll face a fair­ly steep learn­ing curve to mas­ter OpenOffice’s eccen­tric­i­ties, but you can’t beat the price.

[Ins­ge­samt haben Sie eine recht steile Lernkurve vor sich, um die Ver­schroben­heit­en von OpenOf­fice zu meis­tern, aber der Preis ist unschlagbar.]

Any­body who rides a moun­tain bike wants to do what we do, but there’s a real­ly steep learn­ing curve so they usu­al­ly end up just watch­ing,“ he says.

[„Jede/r, der/die ein Moun­tain­bike fährt, möchte machen, was wir machen, aber das hat eine wirk­lich steile Lernkurve, weshalb sie meis­tens nur zusehen.“]

sec­ond Life pro­vides an addi­tion­al way for stu­dents to explore class mate­r­i­al, but it doesn’t appeal to every­one.“ A steep learn­ing curve can also dis­cour­age stu­dents who are not high­ly moti­vat­ed to use SL, he says.

[„sec­ond Life stellt zusät­zliche Möglichkeit­en für Studierende bere­it, um das Kurs­ma­te­r­i­al zu erkun­den, aber das ist nicht für jede/n attrak­tiv.“ Eine steile Lernkurve kann Studierende zusät­zlich ent­muti­gen, die wenig motiviert sind, SL zu nutzen, sagt er.]

Nahezu alle Belege für learn­ing curve hauen in die gle­iche Kerbe:  Ler­nen ist müh­sam, aufwändig, anstren­gend, mitunter ent­muti­gend. Es über­rascht nicht, dass das Nomen learn­ing curve nur ein einziges sig­nifikantes Adjek­tivkol­lokat hat: steep. ((Für diese Erken­nt­nis haben Dat­en aus der Kol­loka­tions­daten­bank des British Nation­al Cor­pus (via BNCweb) herge­hal­ten. Span­nweit­en von 1;0 bis 5;5. Der Serv­er für COCA ist ger­ade unten, aber am Woch­enende hab ich mir von dort noch schwache Assozi­a­tio­nen zu effi­cient, upward, shal­low und sharp notiert.)) Umgekehrt mod­i­fiziert steep — das wird nie­man­den vom Hock­er hauen — über­wiegend  Nom­i­na der Erhöhung oder des Auf­stiegs wie hillclimbridgery, rise oder ascent. ((In der Kol­loka­tion­sliste ste­hen auch Begriffe der absteigen­den Rich­tung wie cliff, slope, decline oder descent.)) Wir assozi­ieren Ler­nen also mit einem Weg (nach oben) zur Erken­nt­nis. Eine andere Per­spek­tive auf die Beschw­er­lichkeit­skon­no­ta­tion für steep learn­ing curve ist, dass es häu­fig in Struk­turen auf­taucht, die mit dem Verb to face ‚gegenüber­ste­hen‘ ein­geleit­et wer­den. In solchen face-Kon­struk­tio­nen ste­hen in der Objek­t­po­si­tion wiederum sig­nifikant häu­fig chal­lenges, risks, prob­lems, obsta­cles, hard­ships, dilem­mas und prob­lems, also eher weniger spaßige Dinge.

Die neg­a­tive Per­spek­tive aufs Ler­nen ist auch in der Wikipedia-Def­i­n­i­tion erwäh­nt. Dort hat man ver­sucht, die math­e­ma­tis­che Def­i­n­i­tion als pos­i­tive, die Laien­ver­wen­dung als neg­a­tive Ein­stel­lung zu deuten. Das ist nicht ganz falsch (abge­se­hen davon, dass eine math­e­ma­tisch-quan­ti­ta­tive rel­a­tiv wenig mit ‚pos­i­tiv‘ oder ‚Ein­stel­lung‘ zu tun hat), aber eben eine ungün­stige Ver­mis­chung von Ebe­nen. Aber jet­zt — um auf die Äpfel und Orangen zurück zu kom­men — kön­nen wir die Laien­ver­wen­dung auf konzeptuellen Meta­phern zurück­führen, also auf die grundle­gende kog­ni­tiv­en Strate­gie, abstrak­te Dinge durch greif­bare, konkrete Din­gen zu konzep­tu­al­isieren. Eine bekan­nte und hier nahe­liegende, über­ge­ord­nete Meta­pher wäre DAS LEBEN IST EINE REISE (LIFE IS A JOURNEY). Und auf dieser Rei­he geht es auf dem WEG zur Erken­nt­nis eben auch mal müh­sam nach oben. Wen diese Idee inter­essiert, find­et in Lakoff & John­son (1980a, 1980b) eine äußert dankbare Lek­türe. Wer mehr so auf bunte Bild­chen steht:

Abbil­dung 2: Steile und flache Lernkur­ven
(eigene Zeich­nung, CC BY-NC-SA 3.0 DE)

Bei der steilen Lernkurve ste­ht nicht der Lern­er­folg an sich im Vorder­grund (oder dessen Quan­tifizierung), son­dern die Anstren­gung a: wenn ich auf dem grü­nen Pfad mit der flacheren Lernkurve unter­wegs bin, hab ich zum Zeit­punkt t (oder wahlweise zum Wis­sen­stand w) mit a1 weniger Anstren­gung hin­ter mir, als wenn ich die rote Route (steile Lernkurve) nehmen muss. Konkrete, physis­che Empfind­un­gen während ein­er anstren­gen­den Bergbestei­gung oder eines flauschi­gen Hügelspazier­gangs dienen uns dabei als Quelle zur Ver­bal­isierung abstrak­ter Emo­tio­nen während ein­er Lern­er­fahrung. Die Y‑Achse ist zur Verdeut­lichung einge­zo­gen: bei der WEG/REISE-Meta­pher spielt die Quan­tifizierung — und stre­it­bar­erweise sog­ar der Betrag des Wis­sen­stands — nur eine unter­ge­ord­nete Rolle. Was bei Lernkur­ven inter­essiert ist der Grin­seg­rad auf dem Weg zur Erken­nt­nis zum Zeit­punkt t.

Denn wenn ich heute sage, dass R für eine funk­tionale Tech­nikanal­pha­betin ne steile Lernkurve hat, sage ich doch über­haupt nichts darüber aus, ob die R‑o­nautin­nen-Aus­bil­dung quan­ti­ta­tiv bei mir gefruchtet hat oder nicht.

P.S.: Fürs Deutsche ist die Meta­phern­strate­gie der steilen Lernkurve ähn­lich, wenn auch quan­ti­ta­tiv offen­bar nicht so stark mess­bar. Als einzige sin­nvolle Kol­lokate spuckt COSMASII aus dem Deutschen Ref­eren­zko­r­pus (DeReKo) steil, flach und — öbach­tle! — PHP aus. Auch im DWDS sind sig­nifikante Verbindun­gen für Lernkurve mit lediglich schwachen Assozi­a­tio­nen zu steil eher mager (aber DWDS & DeReKo mit BNC & COCA ver­gle­ichen zu wollen, ist für diese Unter­suchung ohne­hin prob­lema­tisch). Das Wortschatz­por­tal der Uni­ver­sität Leipzig liefert als auf­fäl­lige Verbindung rechts von Lernkurve außer­dem vor sich, was auf die WEG-Meta­pher hin­weist (sie haben einen weit­en Weg vor sich). Der Ein­druck ist aber ein wenig, dass die Berg­steigemeta­pher im Deutschen schwäch­er aus­geprägt ist und bei Lernkurve häu­figer vom math­e­ma­tis­chen Konzept die Rede ist.

Lakoff, George & Mark John­son. 1980a [2003]. Metaphors we live by. Uni­ver­si­ty of Chica­go Press. [Auf Deutsch: Leben in Meta­phern: Kon­struk­tion und Gebrauch von Sprach­bildern. Carl Auer Verlag.]

Lakoff, George & Mark John­son. 1980b. Con­cep­tu­al metaphor in every­day lan­guage. Jour­nal of Phi­los­o­phy 77(8). 453–486. [Link]