Imaginärer Silbenballast

Von Anatol Stefanowitsch

In der Welt-Online erscheint immer noch regelmäßig die Kolumne „Wort­ge­fecht“, in der Textchef Sönke Krüger der geneigten Leser­schaft sein man­gel­haftes Ver­ständ­nis der deutschen Sprache dar­legt. In dieser Woche ging es ihm um „unnötige Sil­ben“, mit denen wir sein­er Mei­n­ung nach unsere Sprache verunstalten:

Es ist nicht schw­er, zu kom­ponieren, aber es ist fabel­haft schw­er, die über­flüs­si­gen Noten unter den Tisch fall­en zu lassen.“ Ein wahres Wort, das Johannes Brahms da gesprochen hat, und es gilt weit über die Musik hin­aus, näm­lich auch für die Sprache. Dort sind es keine Noten, son­dern über­flüs­sige Sil­ben, die viele Texte schw­er­fäl­lig machen und den Lese­fluss aufhalten.

Lei­der tun sich viele Autoren schw­er damit, Sil­ben­bal­last abzuw­er­fen. So schreibt zum Beispiel der „Focus“: „Der Ver­fass­er kann seinen Let­zten Willen jed­erzeit abän­dern“ — obwohl ändern viel klar­er klingt.

Weit­ere Beispiele, die er nen­nt, sind Rück­ant­wort (er sähe lieber Antwort), Stillschweigen (er bevorzugt Schweigen), und Unkosten (er hält Kosten für angemessen­er) — es geht also gar nicht um „Sil­ben“ (mit denen man rein laut­liche Ein­heit­en beze­ich­net), son­dern um Mor­pheme, Kom­bi­na­tio­nen aus Bedeu­tung und laut­lich­er Form.

Krügers Kolumne bietet eine schöne Gele­gen­heit, wieder ein­mal den Unter­schied zwis­chen dümm­lich­er Sprach­nörgelei und wis­senschaftlich­er Sprach­be­tra­ch­tung deut­lich zu machen. Der Sprach­nör­gler greift sich ein beliebiges sprach­lich­es Phänomen her­aus und beschließt, dass es das eigentlich nicht geben dürfte — z.B., weil es aus ein­er anderen Sprache entlehnt sein kön­nte, weil es in seinem eige­nen Dialekt nicht vorkommt, oder — wie hier — weil es ein­er ver­meintlich offen­sichtlichen Weisheit wider­spricht: „In der Kürze liegt die Würze“, schreibt Krüger an den Anfang sein­er Kolumne, und dieses durch nichts bewiesene, abge­drosch­ene Sprich­wort reicht ihm als Begrün­dung aus, um Wort­teile wegzuhack­en, ohne über die Kon­se­quen­zen auch nur eine Sekunde nachzudenken.

Der Sprach­wis­senschaftler geht anders vor. Er beobachtet ein bes­timmtes sprach­lich­es Phänomen, und fragt sich dann, wie es funk­tion­iert und welchem Zweck es dient. Wenn der Sprach­wis­senschaftler Wort­paare wie ändern/abändern find­et, fragt er sich etwa, warum es zwei so ähn­liche Wörter geben sollte und nach welchen Kri­te­rien Sprech­er sich für die eine oder die andere Vari­ante entschei­den soll­ten. Sehen wir uns diese bei­den Wörter also ein­mal sprach­wis­senschaftlich an, und nehmen wir der Voll­ständigkeit hal­ber auch das Wort verän­dern dazu.

Eine wis­senschaftliche Unter­suchung begin­nt im Nor­mal­fall mit ein­er Hypothese. Wie man zu der gelangt, ist aus wis­senschaft­sphilosophis­ch­er Sicht im Prinzip egal — man kann blind rat­en, man kann mehr oder weniger gezielt spekulieren, oder man kann auf dem vorhan­de­nen Wis­sen auf­bauen. In der Sprach­wis­senschaft kommt man zu ein­er Hypothese häu­fig, in dem man das Sprachge­fühl eines Mut­ter­sprach­lers anzapft — wenn man es mit der eige­nen Mut­ter­sprache zu tun hat, kann man natür­lich das eigene Sprachge­fühl her­anziehen. Kon­stru­ieren wir uns also drei Sätze, in denen wir die drei Wörter sys­tem­a­tisch vari­ieren und alles andere gle­ich lassen:

(1) Der Ver­fass­er hat seinen Let­zten Willen verän­dert.

(2) Der Ver­fass­er hat seinen Let­zten Willen geän­dert.

(3) Der Ver­fass­er hat seinen Let­zten Willen abgeän­dert.

Mein Gefühl sagt mir, dass die Sätze eine unter­schiedlich starke Verän­derung sug­gerieren: wenn jemand seinen let­zten Willen verän­dert, klingt das für mich nach ein­er sehr drastis­chen Umfor­mulierung — z.B. danach, als ob die bish­eri­gen Erben leer aus­ge­hen und das gesamte Ver­mö­gen nun an eine wohltätige Stiftung geht. Wenn jemand seinen let­zten Willen ändert, klingt das nach ein­er deut­lich kleineren Änderung — einige der bish­eri­gen Erben gehen nun vielle­icht leer aus, anderen bleibt ihr Erbe erhal­ten. Und wenn jemand seinen Let­zten Willen lediglich abän­dert, klingt das für mich nach ein­er rel­a­tiv neben­säch­lichen Änderung — die Katze, die bis­lang leer aus­ging, erhält nun auch ihren Anteil, o.ä.

Dies ist nicht der einzige Bedeu­tung­sun­ter­schied, den ich auf­grund meines Sprachge­fühls ver­mute — weit­erere Unter­schiede liegen in der Nach­haltigkeit und der Ursache der Verän­derung. So klingt verän­dern für mich nach einem län­geren Prozess, der durch außen angeregt wird. Die anderen bei­den Ver­ben klin­gen eher nach kurzfristigeren Prozessen, die von innen her­aus geleit­et werden.

Aber bleiben wir bei der Dimen­sion der Stärke der Verän­derung und nehmen das, was ich hierzu gesagt habe, als Hypothese an. Diese Hypothese muss nun getestet wer­den, son­st ist sie auch nicht mehr Wert, als Krügers unqual­i­fiziert­er Vorschlag, das ab doch ein­fach wegzu­lassen. Es sind ver­schiedene Tests denkbar, von der Unter­suchung natür­lich­sprach­lich­er Ver­wen­dungsmuster bis hin zu psy­cholin­guis­tis­chen Experimenten.

Ich möchte hier den ersten Weg gehen. Dazu müssen wir uns zunächst ein Ver­wen­dungsmuster über­legen, an dem der vorgeschla­gene Unter­schied deut­lich wer­den kön­nte, wenn die Hypothese stim­men sollte. Ein solch­es Muster ist zum Beispiel die Ver­wen­dung von Adver­ben, die auf unter­schiedlich starke Verän­derun­gen hin­weisen würden:

(4) Der Ver­fass­er hat seinen let­zten Willen komplett/stark/etwas/leicht/… verändert.

Wenn meine Hypothese stimmt, dann sollte verän­dern häu­figer mit Adver­bi­en ver­wen­det wer­den, die auf eine starke Verän­derung hin­weisen (z.B. total, kom­plett, völ­lig, stark), während abän­dern häu­figer mit Adver­bi­en ver­wen­det wer­den müsste, die auf eine schwache Verän­derung hin­weisen (z.B. etwas, ein Wenig, ein Biss­chen, leicht).

Im Zeital­ter des Inter­net lassen sich Vorher­sagen dieser Art ganz ein­fach über­prüfen. Ich habe mit der Such­mas­chine Yahoo! nach dem Muster HABEN + DEN/DIE/DAS + X + ADVERB + VERÄNDERT/GEÄNDERT/ABGEÄNDERT gesucht. Dabei habe ich alle Flex­ions­for­men von haben im Präsens ver­wen­det. Zählt man die Ergeb­nisse für die Adver­bi­en „stark­er“ Verän­derung und die „schwach­er“ Verän­derung zusam­men und errech­net deren Anteil an den Ver­wen­dun­gen des jew­eili­gen Verbs, so ergibt sich ein klares Bild (verän­dern — blau, gestrichelte Lin­ie, Kreise; ändern — rot, durchge­zo­gene Lin­ie, Vierecke; abän­dern — grün, gepunk­tete Lin­ie, Dreiecke):

Verwendung von Verben der Veränderung

Ver­wen­dung von Ver­ben der Veränderung

Das Auftreten der drei Ver­ben in natür­lichen Ver­wen­dungszusam­men­hän­gen im deutschsprachi­gen Inter­net bestätigt also die Hypothese, die ich auf der Grund­lage meines Sprachge­fühls aufgestellt habe (die Unter­schiede zwis­chen den drei Ver­ben sind dabei sta­tis­tisch höchst sig­nifikant, und zwar sowohl bei einem Ver­gle­ich aller drei Ver­ben, als auch bei einem paar­weisen Ver­gle­ich von jew­eils zwei der drei Ver­ben — wer die genauen Werte haben möchte, kann sich gerne melden).

Das alles ist natür­lich nur der Anfang ein­er wis­senschaftlichen Auseinan­der­set­zung mit diesen Wörtern, aber eins ist schon jet­zt deut­lich: wenn man Wort­teile ver­bi­etet (im irri­gen Glauben, es käme nicht auf die Länge an), tut man der ein­er Sprache keinen Gefall­en. Im Gegen­teil — man beraubt sie fein­er Bedeu­tungss­chat­tierun­gen, und das wäre tat­säch­lich eine Verarmung.

Dieser Beitrag wurde unter Bremer Sprachblog abgelegt am von .

Über Anatol Stefanowitsch

Anatol Stefanowitsch ist Professor für die Struktur des heutigen Englisch an der Freien Universität Berlin. Er beschäftigt sich derzeit mit diskriminierender Sprache, Sprachpolitik und dem politischen Gebrauch und Missbrauch von Sprache. Sein aktuelles Buch „Eine Frage der Moral: Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ ist 2018 im Dudenverlag erschienen.

5 Gedanken zu „Imaginärer Silbenballast

  1. K. Heidtmann

    Hmm, wie wäre es, mit ein­er zusät­zlichen grund­sät­zlichen seman­tis­chen Betra­ch­tung der Vor­sil­ben “ver-” und “ab-”? Was also geschieht mit einem beliebi­gen Verb, wenn ein “ver-” oder “ab-” vor­ange­set­zt wird? Das wird an fol­gen­den Beispie­len deutlich(er): abreisen, ver­reisen, reisen oder abkaufen, verkaufen, kaufen.

    Antworten
  2. Karsten

    Schön. Wobei man natür­lich beson­ders vor­sichtig sein muss wenn der “Sprach­nör­gler” ein Jour­nal­ist ist — diesem Gewerbe mag ja schon tra­di­tionell zuweilen ein um jeglichen ‘Bal­last’ erle­ichtertes Wort­feuer­w­erk à la Marinet­ti (“Sätze wie Maschi­nengewehrsal­ven” oder so ähn­lich) als höch­stes Ziel der kom­mu­nika­tiv­en Bemühun­gen gel­ten (klingt dann ja auch “viel klarer”.

    Antworten
  3. Ulf Runge

    Ich bin defin­i­tiv “nur” Nutzer mein­er Mut­ter­sprache. Kein Profi. Ich finde sehr inter­es­sant, wie man wis­senschaftlich her­leit­en kann, was mir mein seit 53 Jahren aktives Sprachge­fühl sagt: Ver­meintliche Redun­danzen dienen der Präzisierung des Gemeinten.

    Schöne Grüße nach Bremen,

    Ulf Runge

    Antworten
  4. Jens

    Sehe ich das richtig, daß auf der Grafik genau sechs “Meßpunk­te” zu sehen sind und die Lin­ien ein­fach nur gut ausse­hen sollen?

    Wis­senschaftlich­er wäre wohl, die Hypothese als Zufall­sex­per­i­ment zu mod­el­lieren und dann mit­tels Sig­nifikanztest zu überprüfen.

    Antworten

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.