Es war einmal … das Mittelhochdeutsche

Von Kristin Kopf

Nach dem Althochdeutschen will ich mir heute das Mit­tel­hochdeutsche vorknöpfen.
2009-09-28-Mhd Die mit­tel­hochdeutsche Sprach­pe­ri­ode set­zt man von 1050 bis 1350 an – das ist die Zeit des Nibelun­gen­lieds (das man übri­gens mit einem kurzen i ausspricht) und Walthers von der Vogel­wei­de (bei dem der Gen­i­tiv zum Ruf­na­men gehört).

Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch – wo ist der Unterschied?

Es gibt natür­lich eine ganze Rei­he von Unter­schieden, aber mit am auf­fäl­lig­sten ist wohl die soge­nan­nte “Neben­sil­ben­ab­schwächung”. Während im Althochdeutschen noch fast jed­er Vokal an fast jed­er Stelle im Wort vorkom­men kon­nte, konzen­tri­ert das Mit­tel­hochdeutsche klan­gliche Vielfalt auf eine einzige Silbe pro Wort: die betonte.

Die anderen Sil­ben (“Neben­sil­ben”) wer­den mit lang­weili­gen Vokalen abge­speist, während die betonte Silbe (“Haupt­silbe”) sich den Luxus ein­er unglaublichen Var­i­anz erlaubt. Im Althochdeutschen kon­nten die Laute a, e, i, o und u (und die ihnen entsprechen­den Lang­vokale) in jed­er Silbe eines Wortes vorkom­men. Um diese Laute zu pro­duzieren, muss sich die Zunge ganz schön viel bewe­gen: Für das i muss sie vorne oben im Mund sein, für das a unten und für das u hin­ten oben … Stress!

Eine Silbe, die nicht betont ist, wird (im Deutschen) sowieso schon schwäch­er aus­ge­sprochen als eine betonte – der Schritt zur weit­eren Schwächung war also nicht groß. Und so wur­den diese “Vol­l­vokale” im Mit­tel­hochdeutschen an eine Stelle im Mund ver­lagert, an der die Zunge ein­fach nur gemütlich rum­liegen kann: in die Mitte. Diesen zen­tralen Vokal, der hier mit einem umge­dreht­en <e> dargestellt wird, nen­nt man “Schwa”.1

Nebensilbenabschwächung

Hier mal eine kleine Gegenüberstellung:

Althochdeutsch:Fater unseer, thu pist in himile. uuihi namun dinan.
qhueme rihhi din. uuerde uuillo diin […]

(Quelle)

Mit­tel­hochdeutsch:Vater unser, der dû in dem himel bist, gehei­leget sî dîn nam […]
zuo kum an unz das rîche dîn, dîn wille werde […]

(Quelle)

Sehr wörtlich:
‘Vater unser, du bist in Him­mel. Wei­he Namen deinen.
Komme Reich dein. Werde Wille dein.’
Sehr wörtlich:
‘Vater unser, der du in dem Him­mel bist, geheiliget sei dein Name.
Zukomme an uns das Reich dein, dein Wille werde.’

Die Neben­sil­ben­ab­schwächung beförderte das Entste­hen ana­lytis­ch­er Struk­turen. Ursprünglich hat­te das Deutsche eine sehr reiche Endungs­flex­ion, die Wor­tendun­gen macht­en immer schnell klar, um welchen Kasus oder welche Per­son etc. es ging. Wenn nun aber alle Endun­gen nur noch einen einzi­gen Vokal besitzen dür­fen, fall­en viele dieser Endun­gen zusam­men und man kann nicht mehr sagen, welche Form gemeint ist.

Wie gut, dass Ersatz in Sicht war: Die Artikel und Pronomen wur­den ver­stärkt genutzt und schließlich auch oblig­a­torisch. Im Althochdeutschen gab es sie zwar teil­weise schon, aber sie waren bei weit­em nicht so ver­bre­it­et und hat­ten noch mehr “Bedeu­tung”, d.h. man kon­nte sie nicht ein­fach vor jedes Sub­stan­tiv oder Verb set­zen, weil man son­st die Aus­sage zu stark verän­derte. Die Defini­tar­tikel (der, die, das) haben sich über­haupt erst im Ver­lauf des Althochdeutschen entwickelt.

Und sonst noch?

Das war jet­zt natür­lich nur ein einzel­ner Aspekt des Mit­tel­hochdeutschen, da ist noch viel mehr passiert. Über einiges davon kön­nt Ihr hier lesen:

Fußnote:
1Wie man den Laut ganz genau aus­ge­sprochen hat, lässt sich heute nicht mehr ein­deutig sagen – man geht von Schwa aus, aber wahrschein­lich gab es auch Gegen­den mit einem e-Laut. Und manch­mal ver­schwand der Laut völ­lig, was man an Schrei­bun­gen wie <lebn> statt <leben> sieht. Ausgenom­men sind Sil­ben mit ein­er Neben­be­to­nung wie -ung oder -heit.

6 Gedanken zu „Es war einmal … das Mittelhochdeutsche

  1. von Karnstein

    Ist zwar kein Abriss des Mit­tel­hochdeutschen son­dern nur der Neben­sil­ben­ab­schwächung, aber die finde ich sehr schön und ver­ständlich erklärt.
    Mhd. Schwa wird im mit­teldeutschen Raum übri­gens auch gerne mit dem Graphem i geschrieben — Der orthographis­che Aus­fall des Vokals in lebn dürfte aber wohl auf nichts weit­er hin­weisen als darauf, dass phone­mis­ches /ən/ auch damals schon phonetisch als sil­bis­ches [n̩] real­isiert wer­den kon­nte (ich kenne nur Beispiele mit N, glaube ich).

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  2. von Karnstein

    Entschuldigung… ich habe nicht bedacht, dass HTML funk­tion­iert und spitze Klam­mern also nicht erscheinen… Was ich schreiben wollte war:

    mit dem Graphem ‘i’ geschrieben”
    “des Vokals in ‘lebn’ dürfte…”

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    1. Kristin Kopf Beitragsautor

      Die gibt es bish­er tat­säch­lich nicht — danke für die Anre­gung, zumin­d­est für Früh­neuhochdeutsch sollte sich etwas Ver­gle­ich­bares basteln lassen.

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  3. Elas

    Eine wun­der­bare Seite habt ihr da! Mir gefall­en all eure Artikel sehr sehr gut — als ange­hen­der Ger­man­ist füh­le ich mich hier richtig wohl. Bitte unbe­d­ingt weitermachen! (:

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