Shitstormgeburtstag

Von Anatol Stefanowitsch

Seit wir 2011 Shit­storm zum Anglizis­mus des Jahres gewählt haben, verge­ht kaum eine Woche, in der ich meinen Namen nicht irgend­wo in Verbindung mit diesem Wort lesen darf. Wann immer ein Shit­storm disku­tiert wird, find­en sich in einem Neben­satz oder in einem erk­lären­den Kas­ten ein Hin­weis auf unsere Wahl und ein oder zwei Zitate von mir. Obwohl ich leicht zu erre­ichen bin, sind diese Zitate nor­maler­weise alt und stam­men aus Pressemit­teilun­gen oder Inter­views, und nicht aus mein­er Lau­da­tio oder Susannes exzel­len­ten Beiträ­gen zu diesem Wort. ((Wobei hier ein Lob an die Wikipedia angemessen ist, die sich in dem Ein­trag zu diesem Wort in wichti­gen Punk­ten auf unsere Recherchen stützt.)) So auch heute, wo eine Pressemel­dung der dpa den 50. Geburt­stag des Wortes bekan­nt gibt (abge­druckt z.B. in der Wolfs­burg­er All­ge­meinen Zeitung unter der Über­schrift „Ver­meintlich neues Wort“):

Die wohl früh­este schriftliche Erwäh­nung des Wortes liegt aber etliche Jahrzehnte zurück. Sie find­et sich im Roman “Cat’s cra­dle” von Kurt Von­negut. Das Erschei­n­ungs­jahr ist 1963. In diesem Buch über die Zer­störung der Welt durch eine chemisch-physikalis­che Super­waffe schildert Von­negut eine fik­tive Reli­gion, die auf ein­er eben­falls fik­tiv­en kleinen Karibikin­sel von einem Reli­gion­ss­tifter namens Bokonon begrün­det wurde.

Diese Reli­gion, der “Bokonon­ism”, hat einen eige­nen religiösen Wortschatz. Dazu gehört der Begriff “pool-pah”, über den Kurt Von­negut schreibt, der fik­tive Reli­gion­s­grün­der Bokonon habe zwei Vorschläge für eine Über­set­zung ins Englis­che gemacht: “Wrath of God”, also Zorn Gottes, oder “shit storm”, was in der deutschen Über­set­zung des Buch­es mit den Worten “Orkan von Scheiße” wiedergegeben wurde. Da ältere schriftliche Belege bis­lang nicht auffind­bar sind, deutet also vieles darauf hin, dass man dieses Jahr den 50. Geburt­stag des “Shit­storm” feiern kann.

Woher diese Infor­ma­tion stammt, ist unklar, ich nehme aber an, dass sie aus diesem (ins­ge­samt gar nicht schlecht­en) Beitrag des Bayrischen Rund­funks stammt, in dem es heißt:

Die erste auffind­bare schriftliche Erwäh­nung find­et sich in einem Roman des amerikanis­chen Schrift­stellers Kurt Von­negut, der es in den bewegten 60er und 70er-Jahren in den USA zu einem gewis­sen Kult­sta­tus brachte. In seinem Buch “Cat’s Cra­dle” schildert Von­negut eine fik­tive Reli­gion, die auf ein­er eben­falls fik­tiv­en kleinen Karibikin­sel von einen Reli­gion­ss­tifter namens Bokonon begrün­det wurde. Diese Reli­gion, der Bokonon­is­mus, hat eine eigene religiöse Ter­mi­nolo­gie. Dazu gehört das Wort “Pool-Pah”.

Und dieser Beitrag, so ver­mute ich, stützt sich auf den Ein­trag des Wortes im Wik­tionary, der (derzeit) Von­neguts Roman als ersten Beleg nennt.

Tat­säch­lich ist das Wort aber deut­lich älter, wie wir sein­erzeit in der Lau­da­tio disku­tiert haben: Es stammt ver­mut­lich aus dem Slang amerikanis­ch­er Sol­dat­en im Zweit­en Weltkrieg, der erste schriftliche Beleg find­et sich in Nor­man Mail­ers Roman „The Naked and the Dead“.

Glück­licher­weise ist dieser Roman von 1948, sodass wir trotz­dem einen sym­bol­trächtig run­den Geburt­stag feiern kön­nen: der Shit­storm wird in diesem Jahr 65 Jahre alt.

A pro­pos 65. Geburt­stag: Sascha Lobo (der seinen Namen auch jede Woche im Zusam­men­hang mit diesem Wort lesen muss) wollte den Shit­storm ja vor einiger Zeit schon beerdi­gen. Vielle­icht kön­nen wir das Wort ja wenig­stens in Rente schicken.

[Aktu­al­isierung (15:30): Kurz nach­dem die ersten Medi­en die oben ver­link­te Pressemel­dung der dpa über­nom­men hat­ten, informierte ein Leser die ursprünglich ver­link­te Quelle, die Ruhrnachricht­en, über die fehler­hafte Datierung und nan­nte den kor­rek­ten Erst­be­leg. Die Ruhrnachricht­en kor­rigierten den Beitrag umge­hend. Fast gle­ichzeit­ig macht­en Leute auf Twit­ter die dpa auf den Fehler aufmerk­sam, sodass die inner­halb kurz­er Zeit eben­falls eine kor­rigierte Mel­dung her­aus­geben kon­nte, die von vie­len Medi­en über­nom­men wurde (hier z.B. bei der Welt zu finden).

Mein obiger Beitrag war von Anfang an nicht als Press­eschelte gedacht. Im Gegen­teil: Der ursprüngliche BR-Beitrag gefiel mir und ist ja im Prinzip auch gut recher­chiert. Wenn das Wik­tionary wirk­lich die Quelle für die Alterss­chätzung sein sollte, würde  das mich als beken­nen­den Wik­tionary-Fan freuen, und dass das Wik­tionary hier nicht den aller aktuell­sten Wis­sens­stand wiedergibt, ist angesichts der Tat­sache verzeih­lich, dass das Wort shit­storm in vie­len großen englis­chen Wörter­büch­ern gar nicht verze­ich­net ist (das deutsche Lehn­wort ist im Duden online übri­gens bere­its zu find­en). Vielle­icht fühlt sich ja sog­ar jemand berufen, den Wik­tionary-Ein­trag zu aktualisieren.

Die schnelle Reak­tion einzel­ner Zeitun­gen und der dpa ist aber sog­ar im Gegen­teil Anlass für ein Lob der Presse, die, obwohl die Alters­frage des Wortes Shit­storm ja zugegeben­er­maßen nur von begren­zter Rel­e­vanz ist, schnell auf Infor­ma­tio­nen aus Blogs und sozialen Medi­en reagiert hat. Und es ist Anlass für ein Lob von Blogs und sozialen Medi­en, die (wieder ein­mal) gar keine Konkur­renz zu den klas­sis­chen Medi­en waren, son­dern Ergänzung und Kor­rek­tiv. Wenn das ein Mod­ell für die friedliche Koex­is­tenz alter und neuer Medi­en würde, kön­nten wir uns endlich alle ver­tra­gen, Leis­tungss­chutzrecht, Linkboykotte und ähn­lich­es vergessen und ein­fach unsere gemein­samen Ziele ver­fol­gen: Informieren, Bilden und Unterhalten.]

6 Gedanken zu „Shitstormgeburtstag

  1. Andreas

    … wür­den Basken oder Mit­te­lamerikan­er bei 70 auch fra­gen. Rund ist eben eine abgestufte Eigenschaft.

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  2. Erbloggtes

    Wenn ich gewusst hätte, dass die URL zu Mail­ers shit-storm-Ver­wen­dung in der Qual­ität­s­presse benutzt wird, ja sog­ar in die Qual­ität­sref­eren­zen­daten­bank der DPA, “dpaq.de” Ein­gang find­et: http://dpaq.de/1DKQC
    dann hätte ich entwed­er die URL schön und ein­fach machen sollen, frei von nut­zlosem Bal­last: http://books.google.de/books?id=hJ8FAQAAIAAJ&q=%22shit+storm%22
    oder ich hätte einen funk­tion­slosen, aber infor­ma­tiv­en Sub­text in die URL inte­gri­eren sollen: http://books.google.de/books?id=hJ8FAQAAIAAJ&q=%22shit+storm%22&dq=%22shit+storm%22&hl=Erbloggtes_for_President&sa=X&ei=WZ1_UZadGOOF4gS-yoGYAg&redir_esc=y
    Aber nach­her ist man immer klüger.

    @D.A.: In Wik­tionary fehlt noch das 1. Vorkom­men auf Mail­ers S. 104 (“shit-storm”, Sin­gu­lar mit Binde­strich), auch in der AdJ-2011-Lau­da­tio zitiert.

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