Auch englischsprachige Sprachgemeinschaften führen mal mehr, mal weniger erhitzte Diskussionen um geschlechtergerechte Sprache. Dabei haben sie es sehr leicht: Da die meisten Substantive im Englischen kein grammatisches oder natürliches Geschlecht haben, sind es eigentlich nur die Personalpronomen für die dritte Person Einzahl und eine Handvoll von Personenbezeichnungen wie chairman, waitress oder cleaning woman, die Probleme bereiten. Für letztere gibt es längst Alternativen (chair person, server, cleaner), sodass genau genommen nur die Personalpronomen übrig bleiben.
Bei englischen Pronomen wird (genau wie im Deutschen und vielen anderen Sprachen) in der der dritten Person Einzahl – und nur dort – nach Geschlecht unterschieden: männlich wahrgenommene Personen werden mit he, weiblich wahrgenommene mit she bezeichnet. ((Ich könnte hier einfach „Männer“ und „Frauen“ schreiben, aber interessanterweise verwenden wir Pronomen nicht nach dem tatsächlichen Geschlecht, für das wir ja bei den meisten Menschen nur indirekte Evidenz haben, sondern nach dem vermuteten.)) Das ist in zweifacher Hinsicht problematisch.
Das erste Problem entsteht dort, wo auf Individuen aus geschlechtlich gemischten Gruppen Bezug genommen wird. Hier verwenden manche Sprecher/innen das sogenannte generische Maskulinum, andere verwenden Beidnennungen:
- If anyone calls, tell him that I’m in a meeting.
- If anyone calls, tell him or her that I’m in a meeting.
Die erste Lösung ist problematisch, weil sie alle Menschen als männlich darstellt und damit die Existenz weiblich wahrgenommener Menschen verdeckt (und aus psycholinguistischen Experimenten wissen wir, dass es tatsächlich einen gedanklichen Extra-Aufwand erfordert, solche Sätze auf männlich und weiblich wahrgenommene Menschen zu beziehen). Die zweite Alternative scheint zunächst unproblematisch, wenn sie auch in manchen Texten etwas umständlich werden kann.
Das zweite Problem solcher Pronomen entsteht dort, wo jemand sich nicht in das Schema „männlich/weiblich“ einordnen kann oder will. Hier hilft auch Version (2) nicht weiter; im Gegenteil, sie verstärkt das Problem eher.
In der letzen Woche erschienen im Guardian und auf Slate am selben Tag aberunabhängig voneinander zwei interessante Beiträge, die sich mit diesem Problem befassten.
Im Guardian befasst sich David Marsh mit einer Lösung, die die englische Sprachgemeinschaft schon seit Jahrhunderten praktiziert: Den Gebrauch des Mehrzahlpronomens they in Zusammenhängen verteidigt, in denen eigentlich ein Einzahlpronomen stehen müsste:
- If anyone calls, tell them that I’m in a meeting.
Obwohl dieser Gebrauch von they nicht nur sehr verbreitet, sondern auch sehr alt ist (er findet sich schon bei Shakespeare), wird er von Sprachnörglern häufig mit dem Argument abgelehnt, es sei unlogisch, Mehrzahlpronomen für Einzelpersonen zu verwenden.
Marsh weist darauf hin, dass es für dieses Vorgehen im Englischen bereits ein Vorbild gibt: Das Pronomen you (2. Person) war früher ein reines Mehrzahlpronomen (wie das deutsche (ihr), das Einzahlpronomen war thou (entsprechend dem Deutschen du). Und natürlich wird das Mehrzahlpronomen we („wir“) in bestimmten Zusammenhängen (z.B. von König/innen) in Zusammenhängen verwendet, in denen eigentlich I („ich“) stehen müsste. Bei englischen Pronomen ist die Unterscheidung zwischen Einzahl und Mehrzahl also ohnehin sehr schwach ausgeprägt, weshalb Marsh argumentiert, dass der Einzahl-Gebrauch von they endlich allgemein akzeptiert werden sollte.
Während es bei Marsh also eher um das Problem der Bezugnahme auf abstrakte Personen geht, greift Bryan Lowder, Redakteur für die LGBTQ-Rubrik ((LGBTQ steht hier für Lesbian-Gay-Bisexual-Transgender-Queer)) der amerikanischen Online-Zeitschrift Slate, die Problematik der Pronomen für Menschen auf, die sich in der Einordnung „männlich/weiblich“ nicht wiederfinden können oder wollen. Für diesen Fall ist in der LGBTQ-Gemeinde die Idee der „Preferred Gender Pronouns“ (PGP) entwickelt worden. PGPs stellen eine sehr radikale Lösung des Problems geschlechtsspezifischer Pronomen dar: Menschen entscheiden einfach individuell, mit welchem Pronomen über sie in der dritten Person gesprochen werden soll. Dabei sind sie nicht auf die sprachlich etablierten Alternativen he, she und they beschränkt, sondern können auch Neuschöpfungen bestimmter Subkulturen oder sogar Eigenkreationen wählen.
Lowder schildert einen konkreten Fall aus dem Sommer dieses Jahres, in dem es um xoJane-Autor*in s.e. smith ging. Der Gawker-Autor Hamilton Nolan hatte sich in einem Beitrag über Yoga mit dem Pronomen she auf smith bezogen. Die Social-Media-Managerin von xoJane, Madeline Cronin, hatte ihn daraufhin per E‑Mail kontaktiert, dass smiths Preferred Gender Pronoun ou sei, und gebeten, den Artikel entsprechend zu ändern. Nolan erfüllte ihr den Wunsch bewusst halbherzig, indem er im gesamten Artikel das she durchstrichen und ein ou dahinter setzte. Außerdem veröffentlichte er die E‑Mails von Cronin als Nachtrag zu dem Artikel.
Dieser als respektlos empfundene Umgang mit dem Problem und ein Slate-Artikel, in dem Lowder Zweifel an der Durchsetzbarkeit von Preferred Gender Pronouns äußerte löste wohl in Teilen der LBGTQ-Gemeinde Empörung aus. Belege für diese Empörung habe ich nicht gefunden, ich habe aber auch nicht sehr intensiv danach gesucht; s.e. smith selbst reagierte äußerst entspannt.
Empörung oder nicht, aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist die Individualisierung von Pronomen ein interessantes Problem.
Einerseits haben Personalpronomen ja eine ähnliche Funktion wie Eigennamen (wir beziehen uns mit ihnen direkt auf Personen), und bei der Verwendung von Eigennamen akzeptieren wir ja oft (aber nicht immer, wie der Fall von Chelsea Manning zeigt) die Wünsche des Bezeichneten. Andererseits sind Personalpronomen ein Paradebeispiel für eine geschlossene Wortklasse (also eine Wortklasse, in der sich in der Sprachgeschichte nur über sehr lange Zeiträume Veränderungen ergeben), und sie spielen in der Grammatik eine sehr zentrale Rolle.
An dieser Stelle eine Individualisierung vorzunehmen, würde einerseits das Problem der Kategorisierung in „männlich/weiblich“ lösen, da sowohl Gruppen als auch Individuen die Möglichkeit hätten, Pronomen zu erfinden, die für sie das gewünschte dritte, vierte oder fünfte, oder eben auch gar kein Geschlecht ausdrücken. Andererseits würde es tief in die Grammatik eingreifen und verlangt allen Beteiligten sehr viel ab. Wir müssten nicht nur sehr tief eingeschliffene und weitgehend automatisierte Sprachgewohnheiten ändern, sondern wir müssten alle Menschen, über die wir reden, vorher fragen, mit welchem Pronomen wir das tun sollen, und uns die Wünsche merken. Das ist im Bekanntenkreis oder in Situationen, wo wir z.B. einen Artikel über eine bestimmte Person schreiben, mit entsprechend viel gutem Willen und Engagement sicher machbar. Als allgemeine Praxis dürfte es allerdings schnell unübersichtlich werden, vor allem, da sich unsere individuellen PGPs jederzeit ändern könnten.
So spannend ich das Phänomen der PGPs also finde (und aus sprachwissenschaftlicher Sicht ist es zunächst nur eine sprachliche Praxis wie alle anderen, die es zu beobachten und zu beschreiben gilt), so wenig überzeugt bin ich, dass eine völlige Individualisierung von Pronomen im Sinne menschlicher Sprachen ist. Sprachen sind zwar extrem wandelbar, aber im Kern beruhen sie auf möglichst breiten Übereinkünften darüber, welche Wörter und Strukturen Teil einer Sprache sind und welche nicht, und was sie bedeuten, wenn sie es sind. Solche Übereinkünfte sind immer prinzipiell verhandelbar, aber in so zentralen Bereichen wie Pronomen übersteigt der Aufwand solcher Verhandlungen meinem Gefühl nach den Nutzen. Es stellte sich dann auch die Frage, wo die Individualisierung der Sprache aufhören soll. Sollen auch individualisierte Verbendungen hinzukommen (ein Problem, das sich im Englischen weniger stellt als im Deutschen)? Sollen auch Adjektive, Verben und Substantive prinzipiell individualisiert werden? Mir scheint, dass das schnell in einen sprachlichen Solipsismus führen würde, dem zu entkommen erfordern würde, dass wir mehr über Sprache sprechen, als dass wir sie tatsächlich verwenden.
Das soll nicht bedeuten, dass wir im Einzelfall nicht auch individuelle Wünsche bezüglich zu verwendender Pronomen respektieren können. Wenn mir s.e. smith wichtig genug für einen Artikel ist, ist es zumindest keine völlig abseitige Erwartung, dass mir auch smiths PGP einen Gedanken Wert ist (so wie ich ja in diesem Beitrag auch respektiere, dass s.e. smith sich durchgängig klein schreibt).
Aber als allgemeine Lösung scheint mir ein neutrales Pronomen geeigneter, das eben außer „3 Person Einzahl“ keine weiteren Informationen – über Geschlecht oder sonst etwas – enthält. Das Englische hat mit they ein solches Pronomen – denn interessanterweise findet sich they immer häufiger in Zusammenhängen, wo es nicht um abstrakte Personen geht, sondern um konkrete Einzelpersonen, deren Geschlecht der/die Sprechende aus welchen Gründen auch immer nicht näher benennen will. Ein paar Beispiele:
- I met an old friend recently and they asked me what I was up to these days. [Link]
- I have a friend who played it and they were using windows 8 too, they had the sound fine. [Link]
- I also asked my boss and they pretty much agree. [Link]
Im Deutschen funktioniert das leider selbst bei geschlechtsneutralen Substantiven nicht (7), und auch der Bezug auf abstrakte Personen ist mit Mehrzahlpronomen nicht möglich (8):
- *Ich habe meinen Boss gefragt, und sie stimmen mir zu.
- ??Wenn jemand anruft, sag ihnen, ich bin in einem Meeting.
Aber was nicht möglich ist, kann ja möglich werden (dazu ein andermal mehr).
20 Gedanken zu „Pronomen für alle“