Pronomen für alle

Von Anatol Stefanowitsch

Auch englis­chsprachige Sprachge­mein­schaften führen mal mehr, mal weniger erhitzte Diskus­sio­nen um geschlechterg­erechte Sprache. Dabei haben sie es sehr leicht: Da die meis­ten Sub­stan­tive im Englis­chen kein gram­ma­tis­ches oder natür­lich­es Geschlecht haben, sind es eigentlich nur die Per­son­al­pronomen für die dritte Per­son Ein­zahl und eine Hand­voll von Per­so­n­en­beze­ich­nun­gen wie chair­man, wait­ress oder clean­ing woman, die Prob­leme bere­it­en. Für let­ztere gibt es längst Alter­na­tiv­en (chair per­son, serv­er, clean­er), sodass genau genom­men nur die Per­son­al­pronomen übrig bleiben.

Bei englis­chen Pronomen wird (genau wie im Deutschen und vie­len anderen Sprachen) in der der drit­ten Per­son Ein­zahl – und nur dort – nach Geschlecht unter­schieden: männlich wahrgenommene Per­so­n­en wer­den mit he, weib­lich wahrgenommene mit she beze­ich­net. ((Ich kön­nte hier ein­fach „Män­ner“ und „Frauen“ schreiben, aber inter­es­san­ter­weise ver­wen­den wir Pronomen nicht nach dem tat­säch­lichen Geschlecht, für das wir ja bei den meis­ten Men­schen nur indi­rek­te Evi­denz haben, son­dern nach dem ver­muteten.)) Das ist in zweifach­er Hin­sicht problematisch.

Das erste Prob­lem entste­ht dort, wo auf Indi­viduen aus geschlechtlich gemis­cht­en Grup­pen Bezug genom­men wird. Hier ver­wen­den manche Sprecher/innen das soge­nan­nte gener­ische Maskulinum, andere ver­wen­den Beidnennungen:

  1. If any­one calls, tell him that I’m in a meeting.
  2. If any­one calls, tell him or her that I’m in a meeting.

Die erste Lösung ist prob­lema­tisch, weil sie alle Men­schen als männlich darstellt und damit die Exis­tenz weib­lich wahrgenommen­er Men­schen verdeckt (und aus psy­cholin­guis­tis­chen Exper­i­menten wis­sen wir, dass es tat­säch­lich einen gedanklichen Extra-Aufwand erfordert, solche Sätze auf männlich und weib­lich wahrgenommene Men­schen zu beziehen). Die zweite Alter­na­tive scheint zunächst unprob­lema­tisch, wenn sie auch in manchen Tex­ten etwas umständlich wer­den kann.

Das zweite Prob­lem solch­er Pronomen entste­ht dort, wo jemand sich nicht in das Schema „männlich/weiblich“ einord­nen kann oder will. Hier hil­ft auch Ver­sion (2) nicht weit­er; im Gegen­teil, sie ver­stärkt das Prob­lem eher.

In der let­zen Woche erschienen im Guardian und auf Slate am sel­ben Tag aberun­ab­hängig voneinan­der zwei inter­es­sante Beiträge, die sich mit diesem Prob­lem befassten.

Im Guardian befasst sich David Marsh mit ein­er Lösung, die die englis­che Sprachge­mein­schaft schon seit Jahrhun­derten prak­tiziert: Den Gebrauch des Mehrzahl­pronomens they in Zusam­men­hän­gen vertei­digt, in denen eigentlich ein Ein­zahl­pronomen ste­hen müsste:

  1. If any­one calls, tell them that I’m in a meeting.

Obwohl dieser Gebrauch von they nicht nur sehr ver­bre­it­et, son­dern auch sehr alt ist (er find­et sich schon bei Shake­speare), wird er von Sprach­nör­glern häu­fig mit dem Argu­ment abgelehnt, es sei unl­o­gisch, Mehrzahl­pronomen für Einzelper­so­n­en zu verwenden.
Marsh weist darauf hin, dass es für dieses Vorge­hen im Englis­chen bere­its ein Vor­bild gibt: Das Pronomen you (2. Per­son) war früher ein reines Mehrzahl­pronomen (wie das deutsche (ihr), das Ein­zahl­pronomen war thou (entsprechend dem Deutschen du). Und natür­lich wird das Mehrzahl­pronomen we („wir“) in bes­timmten Zusam­men­hän­gen (z.B. von König/innen) in Zusam­men­hän­gen ver­wen­det, in denen eigentlich I („ich“) ste­hen müsste. Bei englis­chen Pronomen ist die Unter­schei­dung zwis­chen Ein­zahl und Mehrzahl also ohne­hin sehr schwach aus­geprägt, weshalb Marsh argu­men­tiert, dass der Ein­zahl-Gebrauch von they endlich all­ge­mein akzep­tiert wer­den sollte.

Während es bei Marsh also eher um das Prob­lem der Bezug­nahme auf abstrak­te Per­so­n­en geht, greift Bryan Low­der, Redak­teur für die LGBTQ-Rubrik ((LGBTQ ste­ht hier für Les­bian-Gay-Bisex­u­al-Trans­gen­der-Queer)) der amerikanis­chen Online-Zeitschrift Slate, die Prob­lematik der Pronomen für Men­schen auf, die sich in der Einord­nung „männlich/weiblich“ nicht wiederfind­en kön­nen oder wollen. Für diesen Fall ist in der LGBTQ-Gemeinde die Idee der „Pre­ferred Gen­der Pro­nouns“ (PGP) entwick­elt wor­den. PGPs stellen eine sehr radikale Lösung des Prob­lems geschlechtsspez­i­fis­ch­er Pronomen dar: Men­schen entschei­den ein­fach indi­vidu­ell, mit welchem Pronomen über sie in der drit­ten Per­son gesprochen wer­den soll. Dabei sind sie nicht auf die sprach­lich etablierten Alter­na­tiv­en he, she und they beschränkt, son­dern kön­nen auch Neuschöp­fun­gen bes­timmter Sub­kul­turen oder sog­ar Eigenkreatio­nen wählen.

Low­der schildert einen konkreten Fall aus dem Som­mer dieses Jahres, in dem es um xoJane-Autor*in s.e. smith ging. Der Gawk­er-Autor Hamil­ton Nolan hat­te sich in einem Beitrag über Yoga mit dem Pronomen she auf smith bezo­gen. Die Social-Media-Man­agerin von xoJane, Made­line Cronin, hat­te ihn daraufhin per E‑Mail kon­tak­tiert, dass smiths Pre­ferred Gen­der Pro­noun ou sei, und gebeten, den Artikel entsprechend zu ändern. Nolan erfüllte ihr den Wun­sch bewusst halb­herzig, indem er im gesamten Artikel das she durch­strichen und ein ou dahin­ter set­zte. Außer­dem veröf­fentlichte er die E‑Mails von Cronin als Nach­trag zu dem Artikel.

Dieser als respek­t­los emp­fun­dene Umgang mit dem Prob­lem und ein Slate-Artikel, in dem Low­der Zweifel an der Durch­set­zbarkeit von Pre­ferred Gen­der Pro­nouns äußerte löste wohl in Teilen der LBGTQ-Gemeinde Empörung aus. Belege für diese Empörung habe ich nicht gefun­den, ich habe aber auch nicht sehr inten­siv danach gesucht; s.e. smith selb­st reagierte äußerst entspan­nt.

Empörung oder nicht, aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht ist die Indi­vid­u­al­isierung von Pronomen ein inter­es­santes Problem.

Ein­er­seits haben Per­son­al­pronomen ja eine ähn­liche Funk­tion wie Eigen­na­men (wir beziehen uns mit ihnen direkt auf Per­so­n­en), und bei der Ver­wen­dung von Eigen­na­men akzep­tieren wir ja oft (aber nicht immer, wie der Fall von Chelsea Man­ning zeigt) die Wün­sche des Beze­ich­neten. Ander­er­seits sind Per­son­al­pronomen ein Parade­beispiel für eine geschlossene Wortk­lasse (also eine Wortk­lasse, in der sich in der Sprachgeschichte nur über sehr lange Zeiträume Verän­derun­gen ergeben), und sie spie­len in der Gram­matik eine sehr zen­trale Rolle.

An dieser Stelle eine Indi­vid­u­al­isierung vorzunehmen, würde ein­er­seits das Prob­lem der Kat­e­gorisierung in „männlich/weiblich“ lösen, da sowohl Grup­pen als auch Indi­viduen die Möglichkeit hät­ten, Pronomen zu erfind­en, die für sie das gewün­schte dritte, vierte oder fün­fte, oder eben auch gar kein Geschlecht aus­drück­en. Ander­er­seits würde es tief in die Gram­matik ein­greifen und ver­langt allen Beteiligten sehr viel ab. Wir müssten nicht nur sehr tief eingeschlif­f­ene und weit­ge­hend automa­tisierte Sprachge­wohn­heit­en ändern, son­dern wir müssten alle Men­schen, über die wir reden, vorher fra­gen, mit welchem Pronomen wir das tun sollen, und uns die Wün­sche merken. Das ist im Bekan­ntenkreis oder in Sit­u­a­tio­nen, wo wir z.B. einen Artikel über eine bes­timmte Per­son schreiben, mit entsprechend viel gutem Willen und Engage­ment sich­er mach­bar. Als all­ge­meine Prax­is dürfte es allerd­ings schnell unüber­sichtlich wer­den, vor allem, da sich unsere indi­vidu­ellen PGPs jed­erzeit ändern könnten.

So span­nend ich das Phänomen der PGPs also finde (und aus sprach­wis­senschaftlich­er Sicht ist es zunächst nur eine sprach­liche Prax­is wie alle anderen, die es zu beobacht­en und zu beschreiben gilt), so wenig überzeugt bin ich, dass eine völ­lige Indi­vid­u­al­isierung von Pronomen im Sinne men­schlich­er Sprachen ist. Sprachen sind zwar extrem wan­del­bar, aber im Kern beruhen sie auf möglichst bre­it­en Übereinkün­ften darüber, welche Wörter und Struk­turen Teil ein­er Sprache sind und welche nicht, und was sie bedeuten, wenn sie es sind. Solche Übereinkün­fte sind immer prinzip­iell ver­han­del­bar, aber in so zen­tralen Bere­ichen wie Pronomen über­steigt der Aufwand solch­er Ver­hand­lun­gen meinem Gefühl nach den Nutzen. Es stellte sich dann auch die Frage, wo die Indi­vid­u­al­isierung der Sprache aufhören soll. Sollen auch indi­vid­u­al­isierte Ver­ben­dun­gen hinzukom­men (ein Prob­lem, das sich im Englis­chen weniger stellt als im Deutschen)? Sollen auch Adjek­tive, Ver­ben und Sub­stan­tive prinzip­iell indi­vid­u­al­isiert wer­den? Mir scheint, dass das schnell in einen sprach­lichen Solip­sis­mus führen würde, dem zu entkom­men erfordern würde, dass wir mehr über Sprache sprechen, als dass wir sie tat­säch­lich verwenden.

Das soll nicht bedeuten, dass wir im Einzelfall nicht auch indi­vidu­elle Wün­sche bezüglich zu ver­wen­den­der Pronomen respek­tieren kön­nen. Wenn mir s.e. smith wichtig genug für einen Artikel ist, ist es zumin­d­est keine völ­lig abseit­ige Erwartung, dass mir auch smiths PGP einen Gedanken Wert ist (so wie ich ja in diesem Beitrag auch respek­tiere, dass s.e. smith sich durchgängig klein schreibt).

Aber als all­ge­meine Lösung scheint mir ein neu­trales Pronomen geeigneter, das eben außer „3 Per­son Ein­zahl“ keine weit­eren Infor­ma­tio­nen – über Geschlecht oder son­st etwas – enthält. Das Englis­che hat mit they ein solch­es Pronomen – denn inter­es­san­ter­weise find­et sich they immer häu­figer in Zusam­men­hän­gen, wo es nicht um abstrak­te Per­so­n­en geht, son­dern um konkrete Einzelper­so­n­en, deren Geschlecht der/die Sprechende aus welchen Grün­den auch immer nicht näher benen­nen will. Ein paar Beispiele:

  1. I met an old friend recent­ly and they asked me what I was up to these days. [Link]
  2. I have a friend who played it and they were using win­dows 8 too, they had the sound fine. [Link]
  3. I also asked my boss and they pret­ty much agree. [Link]

Im Deutschen funk­tion­iert das lei­der selb­st bei geschlecht­sneu­tralen Sub­stan­tiv­en nicht (7), und auch der Bezug auf abstrak­te Per­so­n­en ist mit Mehrzahl­pronomen nicht möglich (8):

  1. *Ich habe meinen Boss gefragt, und sie stim­men mir zu.
  2. ??Wenn jemand anruft, sag ihnen, ich bin in einem Meeting.

Aber was nicht möglich ist, kann ja möglich wer­den (dazu ein ander­mal mehr).

20 Gedanken zu „Pronomen für alle