Jugend schützt vor Wortheit nicht

Von Anatol Stefanowitsch

Das Jugend­wörter­buch-des-Jahres-Wer­be­wort 2016 wurde eben bekan­nt gegeben. Wie auch in den let­zten Jahren (2013, 2014, 2015) sind dem Sprachlog die Aufze­ich­nun­gen der Beratun­gen aus den Redak­tion­sräu­men des Wörter­buchver­lags Schlangenei­dt zuge­spielt wor­den, die wir im Fol­gen­den ungekürzt veröffentlichen.

Im Büro von DR. WORTWISPERER, Ober­lexiko­graf des Wörter­buchver­lags Schlangenei­dt in München.

Anwe­send sind OBERLEXIKOGRAF DR. WILLHELM WORTWISPERER und ASSISTENZOBERLEXIKOGRAF SIEGFRIED SILBENSÄUSLER.

SILBENSÄUSLER. Wortwisper­er, Wortwisperer!

(STILLE)

SILBENSÄUSLER. Aufgewacht, Wortwisperer!

WORTWISPERER. Potz­tausend, Sil­ben­säusler! Wie oft habe ich Ihnen gesagt, Sie sollen mich nicht beim Sin­nieren unterbrechen!

SILBENSÄUSLER. Par­don, Wortwisper­er, aber es eilt! Der Herr Direk­tor Schlangenei­dt ver­langt das Jungspund­wort des Jahres!

WORTWISPERER: Schon wieder, Silbensäusler?

SILBENSÄUSLER: Ja, der Lauf der Jahreszeit­en, Wortwisper­er. Es ist schon wieder so weit.

WORTWISPERER: Aber sind diese Jungspunde nun­mehr nicht langsam alle im Man­nesalter angekom­men, Silbensäusler?

SILBENSÄUSLER: Da wach­sen ständig neue Jungspunde nach, Wortwisperer.

WORTWISPERER: Teufel noch ein­mal, Sil­ben­säusler, deshalb wer­den das nie weniger!

SILBENSÄUSLER: Ja, und die Jungspunde brauchen nun wieder ein Wort von uns.

WORTWISPERER: Haben die denn keine eigenen?

SILBENSÄUSLER: Das kön­nen wir nicht wis­sen, Wortwisper­er, wir ken­nen ja außer dem Fräulein Jan­i­na keine Jungspunde, und das Fräulein Jan­i­na geht nicht mehr an den Fernsprecher.

WORTWISPERER: Nicht?

SILBENSÄUSLER: Nein, es meldet sich über­haupt nie­mand mehr. Neulich war ein Handw­erks­bursche da und hat gesagt, es liege am Impulswahlverfahren.

WORTWISPERER: Was meint er damit?

SILBENSÄUSLER: Das muss etwas mit den Unruhen in der Neuen Welt zu tun haben, Wortwisper­er. Da hat man jet­zt wohl sehr impul­siv einen neuen Präsi­den­ten gewählt.

WORTWISPERER: Was ist denn mit George Wash­ing­ton? Wollte der nicht mehr?

SILBENSÄUSLER: Lin­coln, Wortwisper­er, Lin­coln war der let­zte Präsi­dent, und der ist wohl mit einem dieser neu­modis­chen Meuchelpuffer entleibt worden.

WORTWISPERER: Gut, dass wir hier die Monar­chie haben, Sil­ben­säusler. Nicht auszu­denken, wenn hier auch solche Impul­swahlver­fahren durchge­führt würden.

SILBENSÄUSLER: Und was sagen wir jet­zt dem Her­rn Direk­tor Schlangeneidt?

WORTWISPERER: Wie wäre es mit „isso“?

SILBENSÄUSLER: Was soll denn das sein, Wortwisperer?

WORTWISPERER: Der Abla­tiv des lateinis­chen Pronomens „isse“, Sil­ben­säusler. Ken­nen Sie ihren Stowass­er nicht?

SILBENSÄUSLER: Natür­lich kenne ich den, auch wenn der Herr Direk­tor Schlangenei­dt ihn nicht sehen darf, ist ja von der Konkur­renz… Aber warum Latein, Wortwisperer?

WORTWISPERER: Nun, die Jungspunde entlehnen gerne Wortgut, habe ich gehört. Und aus dem Latein, weil die Jungspunde heute ja wohl kaum noch Griechisch lernen.

SILBENSÄUSLER: Ja, eine Tragödie, Wortwisper­er. Aber trotz­dem, selb­st der Herr Direk­tor Schlangenei­dt wird uns nicht glauben, dass die Jungspunde so sprechen.

WORTWISPERER: Her­rje, diese ständi­ge Müh­sal mit dem Jungspund­wort, ich füh­le mich wie gefangen.

SILBENSÄUSLER: Ja, und die Jungspunde schert es nicht ein­mal, die leben ein­fach in den Tag hinein.

WORTWISPERER: Ach, ein­mal noch so frei sein wie die Jungspunde!

SILBENSÄUSLER: Ja, frei sein, ein schönes Sen­ti­ment, mein Guter.

WORTWISPERER: Frei sein… Sil­ben­säusler, das ist es!

SILBENSÄUSLER: Wie meinen?

WORTWISPERER: Frei sein, wie die Jungspunde! „Frei sein“ kön­nte unser Jungspund­wort des Jahres sein!

SILBENSÄUSLER: Hm, ich weiß nicht… klingt so nor­mal, nicht, wie etwas, dass diese Jutubian­er oder dieser Sprech­barde „Schuld­spruch“, oder wie er heißt, ver­wen­den würden.

WORTWISPERER: Vielle­icht, wenn man es ausspricht, wie ein Chi­nese? Mit „L“? Also „flei sein“?

SILBENSÄUSLER: Wie ein Chi­nese, Wortwisperer?

WORTWISPERER: Ja, das Reich der Mitte ist derzeit der neueste Schrei, Sil­ben­säusler, sog­ar dieser junge Höfling, den wir so schätzen, hat sich lobend geäußert.

SILBENSÄUSLER: Der Junker Oettinger?

WORTWISPERER: Ja, genau der!

SILBENSÄUSLER: Dann nehmen wir das. „Flei sein“ – das tönt sehr wahrhaftig, je öfter ich es mir vor­sage. Ich gebe gle­ich dem Her­rn Direk­tor Schlangenei­dt Bescheid.

WORTWISPERER: Und danach feiern wir das wie jedes Jahr bei einem Her­rengedeck in der Spelunke an der Ecke! Sie wis­sen schon, die, wo dieser flotte Käfer hin­ter der Theke steht!

SILBENSÄUSLER. Ho ho ho.

WORTWISPERER. Hö hö hö.

SILBENSÄUSLER. Und dann wieder ein Jahr lang süßer Müßiggang!

2 Gedanken zu „Jugend schützt vor Wortheit nicht

  1. Pingback: Jugendwort des Jahres als Werbe-Trick | digithek blog

  2. Fynn

    So in etwa wird es ver­mut­lich wirk­lich ablaufen, wenn man sich so manch­es Jugend­wort anschaut und fest­stellt, dass man es nie zuvor gehört hat 😀

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