Tagesmus und Gezirkumfixe

Von Kristin Kopf

Mein HiWi-Job mit Otfrid neigt sich dem Ende zu – eines mein­er Fund­stücke zum Abschluss:

Verse: 95 Innan thés batun thár thie jún­goron then méistar,
Verse: 96 tház er thar gisázi zi dága­muase inti ázi.

[Indessen bat­en da die Jünger den Meis­ter, dass er sich dort zum Früh­stück hin­set­zen und essen möge.]

(Otfrid von Weis­senburg, Evan­gelien­buch 2, Kapi­tel 14)

Das Früh­stück war ein “Tagesmus” und bietet einen schö­nen Anlass dafür, sich mit dem Wort Mus ein­mal näher zu befassen. Im Althochdeutschen hieß muos (oder, wie hier, muas geschrieben) noch ‘Essen, Speise, Mus’, vom west­ger­man­is­chen *môsa- ‘Zukost’. Wahrschein­lich war es eine Ableitung von *mati- Speise’ (darauf geht z.B. das englis­che meat ‘Fleisch’ zurück). Heute beze­ich­net es in der Stan­dard­sprache ‘Obst­brei’, region­al kann es aber auch für ‘Gemüse’ stehen.

Gemüse ist ein Mus(s)

Ja, genau, Gemüse … das kommt auch von Mus und hieß zuerst ‘Brei, zerklein­erte Nahrung’, dann ‘pflan­zliche Nahrung, ess­bare Pflanzen’. Von Mus zu Gemüse kommt man übri­gens ganz leicht, näm­lich mit dem Zirkum­fix gi-X-i.

Ein “Zirkum­fix” ist ein Ele­ment, das ein Wort von bei­den Seit­en umk­lam­mert. Da wo ich das X einge­set­zt habe, kon­nten vor langer, langer Zeit ein­mal alle möglichen Sub­stan­tive einge­set­zt wer­den. Das so neuge­bildete Wort hat­te auch eine neue Bedeu­tung: ‘Menge/Gruppe/Gesamtheit von X’. Solche Wörter nen­nt man daher “Kollek­tiv­bil­dun­gen” oder “Kollek­ti­va” und man kann sie auch heute noch massen­weise im Deutschen find­en.1

Berg – Gebirge
Fed­er – Gefieder
Feld – Gefilde
Schwest­er – Geschwister
Stern – Gestirn
Wet­ter – Gewitter
Mauer – Gemäuer
Ast – Geäst
Wass­er – Gewässer
Bau – Gebäude
Blut – Geblüt
Fall – Gefälle
Faß – Gefäß
Haus – Gehäuse
Hag – Gehege
Land – Gelände
Pack – Gepäck
Wurz – Gewürz
Zucht – Gezücht

Durch die lange Zeit, die seit ihrer Bil­dung ver­gan­gen ist, haben viele dieser Kollek­ti­va allerd­ings mit­tler­weile ganz andere Bedeutungen.

Wenn man sich die bei­den Grup­pen rechts anschaut, fällt schnell etwas auf: In der ersten Gruppe find­et sich im Kollek­tivum immer ein i, wo in der Aus­gangs­form ein e ste­ht. Das hat einen ein­fachen Grund:

Lustiges Lauteheben bei den Westgermanen

Die West­ger­ma­nen hat­ten ein lustiges Laut­ge­setz namens “West­ger­man­is­che Hebung” (oder i-Umlaut”), das besagte: Wenn in der beton­ten Silbe ein e ste­ht und in der darauf­fol­gen­den Silbe ein i, j oder u, dann wird das e zum i.

  1. berg → wird abgeleit­et mit dem Zirkum­fix: gi-berg-i
  2. gi-berg-i enthält in der beton­ten Silbe ein e und in der Fol­ge­silbe ein i
  3. Das i ver­wan­delt das e eben­falls in ein i
  4. Das Ergeb­nis: gibirgi

Wem das verdächtig nach Assim­i­la­tion klingt, der hat recht: Das Laut­ge­setz nen­nt sich nicht umson­st Hebung. i, j und u, die aus­lösenden Laute, wer­den ganz oben im Mundraum gebildet, 2009-04-29-wghebunge, wie man sieht, etwas weit­er unten. 

Jet­zt üben aber die Fol­ge­laute einen enor­men Druck auf das e aus, sie brüllen unun­ter­brochen “Komm her zu mir, komm her zu mir!” und schließlich gibt das e nach. Es lässt sich nach oben heben und wird damit zum i. Ein klar­er Fall von vorau­seilen­dem Gehor­sam und ein tri­umphaler Sieg für die faule Zunge.

Was ihr könnt, können wir schon lange!

Ein Blick auf die zweite Gruppe von Wörtern zeigt, dass die West­ger­man­is­che Hebung nicht alles erk­lären kann: Woher kom­men all die Umlaute? Aus dem Althochdeutschen! Auch a, o und u woll­ten sich verän­dern, also kam es, schwup­ps, zum Primär- und Sekundärum­laut.2
Die Regel war ganz ähn­lich: Wenn in der beton­ten Silbe a, o oder u standen und in der darauf­fol­gen­den Silbe ein i oder j, wur­den die Laute zu ä, ö oder ü.

Dies­mal ist aber das u kein Aus­lös­er, weshalb man auch nicht von ein­er Hebung spricht,2009-04-29-umlaut son­dern von ein­er “Palatal­isierung”. Das bedeutet, dass die Laute sich in Rich­tung des Pala­tums (das ist der harte Gau­men) ver­schieben, also nach vorne – dahin, wo die aus­lösenden Laute (i und j) sitzen. Es wird also aus einem hin­teren oder zen­tralen Vokal (rechts der grauen Lin­ie) ein vorder­er Vokal (links der grauen Lin­ie), weil ein vorder­er Vokal (das i) laut nach Gesellschaft brüllt.

Wir haben also wieder:

  1. ast → wird abgeleit­et mit dem Zirkum­fix: gi-ast-i
  2. gi-ast-i enthält in der beton­ten Silbe ein a und in der Fol­ge­silbe ein i
  3. Das i ver­wan­delt das a in ein ä
  4. Das Ergeb­nis: giästi

Wie leicht zu erken­nen ist, gab es im Althochdeutschen keine totale Assim­i­la­tion: ä, ö und ü sind dem i nur ähn­lich­er als a, o und u, sie sind nicht mit ihm iden­tisch. Daher nen­nt man den Vor­gang auch “par­tielle Assimilation”.

Das e in Gehege war übri­gens auch mal ein a, es liegt also auch ein Umlaut vor. Warum man es nicht als ä schreibt, ist aber eine andere Geschichte.

Der Narr hat seine Schuldigkeit getan …

Jaja, das aus­lösende i in der Fol­ge­silbe – wo ist es eigentlich hin? Im Mit­tel­hochdeutschen gab es in den unbe­ton­ten Sil­ben ein großes Vokalster­ben: Nach und nach wur­den alle Vokale abgeschwächt, bis sie am Ende nur noch [ə] waren, wie in gesagt. In vie­len Fällen ist dieser reduzierte Laut dann völ­lig wegge­fall­en. Der Prozess heißt Neben­sil­ben­ab­schwächung und hat­te weitre­ichende Fol­gen für das kom­plette Sprach­sys­tem, aber dazu ein ander­mal. Jet­zt gehe ich mein Nacht­mus essen.

Fußnoten:
1Es gibt auch Ge-Wörter, die nicht auf alte Kollek­ti­va zurück­ge­hen, son­dern z.B. von Ver­ben abgeleit­et wur­den (
Ver­bal­ab­strak­ta) oder “Sozia­tiv­bil­dun­gen” sind, d.h. die Zuge­hörigkeit zu etwas aus­drück­en. Keine Kollek­ti­va sind unter anderen: Geschäft, Gesäß, Gerücht, Geschmack, Geschoß, Gesicht, …
Auch alles, was wir heute noch mit Ge-X-e und einem Verb­stamm bilden kön­nen, sind keine Kollek­ti­va (z.B. Gedisse, Gemobbe, Gechille) son­dern Nom­i­nal­bil­dun­gen die eine gewisse neg­a­tive Ein­stel­lung ausdrücken. 
Die Bil­dung von Ge-Kollek­ti­va ist heute nicht mehr pro­duk­tiv, man benutzt andere Mittel.
2Es gibt gute Gründe, diesen Prozess in zwei Teil­prozesse zu unter­gliedern, die aber für unser Gemüse nicht weit­er rel­e­vant sind. Ich werfe also bei­de Umlaute zusammen.

3 Gedanken zu „Tagesmus und Gezirkumfixe

  1. Kristin Kopf Beitragsautor

    Oh wie schön, dass das noch jeman­den inter­essiert! 🙂 Ich habe mal bei Kluge nachgeschla­gen, er sagt es sei ein Ver­bal­ab­strak­tum zu ahd. spanan ‘ver­lock­en’, muss also anfangs vor allem für Trug­bilder ver­wen­det wor­den sein.

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