Zwei Auswüchse

Von Kristin Kopf

Das Ety­molo­giequiz ist vor­bei und ich will ein paar der Wort­paare in den näch­sten Tagen noch ein wenig näher beleucht­en. Los geht’s mit dem Dau­men und seinem Partnerwort …

… Tumor, die sich eine indoger­man­is­che Wurzel teilen. Die beze­ich­nete wohl ganz neu­tral etwas Geschwol­lenes, Dick­es – was sich sowohl für den Dau­men als dick­sten Fin­ger als auch für eine Wucherung, die eigentlich nicht vorhan­den sein sollte, anbi­etet. Den Weg, den die bei­den Wörter nehmen, habe ich (vere­in­facht) hier dargestellt:


Unsere heutige Form Dau­men lässt sich also laut­geschichtlich sehr gut zurück­ver­fol­gen. Der entlehnte Tumor hinge­gen hat gar keine Laut­wan­del­prozesse der deutschen Sprachgeschichte mit­gemacht, weil er erst vor rel­a­tiv kurz­er Zeit (im 19. Jahrhun­dert) aus dem Lateinis­chen kam. Auch vor der Entlehnung hat­te das Deutsche schon ein Wort für ‘Tumor’, näm­lich Geschwulst (von schwellen abgeleitet).

Inter­es­sant ist die Verän­derung von Daume zu Dau­men, die sich erst in rel­a­tiv neuer Zeit vol­l­zo­gen hat: noch im Deutschen Wörter­buch ist das Hauptlem­ma Daume. Das ist kein Laut­wan­del, es gab also keinen Prozess, bei dem ein­fach an aus­lau­t­en­des Schwa ein n ange­hängt wurde, son­dern Analo­gie. Das Wort Daume hat seine Dek­li­na­tion­sklasse geän­dert, und damit auch seine Form. Ging es vorher noch wie Barde (der Barde, des Barden, dem Barden, den Barden), so geht es heute wie Haufen (der Haufen, des Haufens, dem Haufen, den Haufen):

Kasus älter neu
NOM/AKK daume daumen
GEN daume-n daumen-s
DAT daume-n daumen

Damit ist das Wort von der soge­nan­nten “schwachen” zur “starken” Flex­ion überge­gan­gen. (Schwach: Alle For­men außer der Nom­i­na­tiv Sin­gu­lar gehen auf -(e)n.) Das -n der Flex­ion­sendung wurde als Teil des Stammes uminter­pretiert und man ver­passte diesem ver­meintlichen Stamm eine neue, klasse­nangemessene Endung im Gen­i­tiv Sin­gu­lar, das -s.

Solche Klassen­wech­sel sind gar nicht unüblich, ger­ade die schwache Flex­ion entledigt sich seit eini­gen Jahrhun­derten zunehmend aller Mit­glieder, die ihr nicht in den Kram passen, so z.B. Balken, Brun­nen, Knochen, Schaden, Garten und Magen, die früher ein­mal balke, brunne, knoche, schade, garte und mage waren. Aktuell auf der Kippe ste­hen u.a. der Funke(n) und der Glaube(n). Dieser geord­nete Rück­zug hat seine eige­nen, sehr span­nen­den Regeln, vielle­icht schreibe ich dazu ein ander­mal was.

Das lateinis­che Wort für ‘Dau­men’ (und ‘großer Zeh’) lautet übri­gens pollex, dessen Herkun­ft nicht klar zu sein scheint, aber es hat auf jeden Fall mit der indoger­man­is­chen tuəm-Wurzel nichts zu tun.

Quellen:

  • De Vaan, Michiel (2008): Ety­mo­log­i­cal Dic­tio­nary of Latin and the oth­er Ital­ic Lan­guages. Lei­den, Boston.
  • Grimm, Jacob und Wil­helm (1854–1960): Deutsches Wörter­buch. 16 Bde. in 32 Teil­bän­den. Leipzig.
  • Nübling, Damaris (2008): Was tun mit Flex­ion­sklassen? Dek­li­na­tion­sklassen und ihr Wan­del im Deutschen und seinen Dialek­ten. In: Zeitschrift für Dialek­tolo­gie und Lin­guis­tik 75.3, 282–330.
  • Poko­rny, Julius (1959): Indoger­man­is­ches ety­mol­o­gis­ches Wörter­buch. Bern.
  • See­bold, Elmar (2002): Kluge. Ety­mol­o­gis­ches Wörter­buch der deutschen Sprache. 24. Aufl. Berlin.

2 Gedanken zu „Zwei Auswüchse

  1. Philip Newton

    Wer solche Ety­molo­gie-Paare mag und des Englis­chen mächtig ist, hat vielle­icht auch gefall­en an Brad­shaw of the future.

    Dort wer­den in jedem Ein­trag zwei Wörter vorgestellt, die ety­mol­o­gisch ver­wandt sind, wo man diese Ver­wandtschaft aber auf den ersten Blick nicht ver­muten würde. (Beispiel­sweise “funky” und “thyme” oder “geezer” und “twit”.)

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