Der andere Mai

Von Kristin Kopf

Ihr ken­nt doch sich­er “das andere Links” – aber wusstet ihr, dass es auch mal einen “anderen Mai” gab? Also known as Juni.

Diese Benen­nung wird logis­ch­er, wenn man weiß, dass ander­er nicht immer nur seine heutige Bedeu­tung besaß, die ja so unge­fähr ‘nicht dieser’ ist. Schaut mal diese Bibel­stellen aus dem ersten Buch Gen­e­sis von ca. 1466 (Straßburg) und 1494 (Lübeck) an:

(1) … vnd es war gemacht abent und der mor­gen DER ANDER TAGE. (2) … und van deme auende vnd van deme morghen waert DE ANDER DACH

Bei Luther heißt die entsprechende Stelle:

7 Da machet Gott die Feste / vnd schei­det das wass­er vnter der Fes­ten / von dem wass­er vber der Fes­ten / Vnd es geschach also.
8 Vnd Gott nen­net die Fes­ten / Himel. Da ward aus abend vnd mor­gen der ander Tag.

Für die nicht ganz so Bibelfesten noch deut­lich­er wird es dann, wenn man sich das Inhaltsverze­ich­nis der Luther­bibel anschaut, oder auch sowas hier:

Das erst zaichen … Das ander … Das dritt … Das vierdt … Das fünfft … (Nürn­berg 1502)

Mhm, damals war das ander auch ‘das Zweite’. Diese Bedeu­tung steckt noch in eini­gen Bil­dun­gen wie anderthalb ‘das zweite halb’ oder sel­ban­der ‘zu zweit’. Zugegeben, let­zteres ist nicht mehr so furcht­bar gebräuch­lich, aber es find­et sich im DWDS-Kernko­r­pus, das das 20. Jahrhun­dert abdeckt, sieben­mal zwis­chen 1904 und 1932, z.B. hier:

Der stel­lvertre­tende Kom­panieführer und der Webel tanzen sel­ban­der einen schö­nen Krakowiak. (Tuchol­sky, Unter­wegs 1915, in: Die Schaubühne 30.08.1917)

Das andere Geschlecht und die Nordgermania

Die Grimms ver­weisen auch auf einige Wen­dun­gen mit der alten Bedeu­tung, so das andere Geschlecht als Beze­ich­nung für Frauen, heute wohl am bekan­ntesten als deutsch­er Titel von de Beau­voirs Le Deux­ième Sexe (frz. deux­ième ‘zweit­er’). Auf Englisch heißt das Buch übri­gens The Sec­ond Sex, auf Ital­ienisch Il sec­on­do ses­so, aber in Skan­di­navien wird’s lustig:

Dänisch: Det andet køn
Nor­wegisch: Det annet kjønn
Schwedisch: Det andra könet

Sieht aus wie im Deutschen, ist aber nicht ganz so: Die nordger­man­is­chen Sprachen haben die alte Bedeu­tung ‘zweite/r/s’ wesentlich bess­er bewahrt. Das Wort kann dort sowohl die Ordi­nalzahlbe­deu­tung als auch die all­ge­meinere Bedeu­tung ‘andere/r/s’ besitzen. Wir hinge­gen haben die Ordi­nalzahlbe­deu­tung eli­m­iniert, indem wir eine neuere Ableitung vom Zahlwort zwei gebildet haben. Das ging, laut Pfeifer, so im 14. Jahrhun­dert los, brauchte aber zur Durch­set­zung eine ganze Weile, wie man an den Bibeln sieht.

Im Schwedis­chen weicht die Ordi­nalzahl also vom ein­fachen Zahlwort ab:

ett, två, tre, fyra, fem, sex, sju, åtta, nio, tio
×
förs­ta, andra, tred­je, fjärde, femte, sätte, sjunde, åttonde, nionde, tionde

Und im Deutschen haben wir aufgeräumt:

eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht, neun, zehn
erster, zweiter, drit­ter, viert­er, fün­fter, sech­ster, siebter, achter, neunter, zehn­ter

Mai und Juni. Oder April?

Und wie war das nun mit dem anderen Mai? Die Grimms sagen:

mai, der fün­fte monat des jahres, in alten quellen auch der erste mai, während der ander mai den juni bezeichnet.

Ein Beispiel dazu:

also was man holz zu kalköfen hawen und fellen will, das musz gescheen in dem meien oder auf das lengst im andern meien. (Nürn­berg, 1464–1475)
‘was man an Holz für Kalköfen hauen und fällen will, das muss im Mai oder spätestens im anderen Mai geschehen’ (meine Übersetzung)

Dazu passt auch die Benen­nung des Juni als Nach­mai – die Grimms ver­weisen auf Schmellers Bay­erisches Wörter­buch, wo es fol­gen­den Beleg gibt:

In dem maien soll er minne pfle­gen, in dem nach­maien ist er siech. (1377, Augs­burg­er Diocese)
‘Im Mai soll er sich der Liebe wid­men, im Nach­mai ist er krank’ (meine Übersetzung)

Und Schmeller hat dann noch einen span­nen­den anderen Hin­weis: In manchen slaw­is­chen Sprachen gibt es eine paar­weise Monats­be­nen­nung mit ‘klein’ (mali) und ‘groß’ (veli­ki). So ist im Slowenis­chen eine andere, wohl ältere Beze­ich­nung für April mali tra­ven und für Mai veli­ki tra­ven. Und auf der Suche eben­falls her­aus­ge­fun­den: Der mali srpan ist der Juli und der veli­ki srpan der August. Alle Monate in ein­er Tabelle gibts hier. Da sind auch die Namen für das Prek­murische aufge­führt, wo die Benen­nung leicht ver­lagert ist: mali tráven ist der März, vel­ki tráven der April.

Wenn mich nicht alles täuscht, stam­men die Monat­sna­men von tra­va ‘Gras’ und srp ‘Sichel’. Dass der “Gras­monat” vari­ieren kann, ist übri­gens kein Wun­der, son­dern wahrschein­lich klimabe­d­ingt und auch im Deutschen so. Da gab es ihn früher näm­lich auch:

benen­nung des monats, in dem das gras sprieszt (…), je nach geo­graphis­ch­er lage des aprils oder mais.

Und so schließt sich der Kreis.

Quellen:

8 Gedanken zu „Der andere Mai

  1. Nikolas

    sehr inter­es­san­ter Artikel! Ich frage mich allerd­ings, ob deine Über­set­zung von anderthalb kor­rekt ist. Ich hat­te immer geglaubt, es heißt so viel wie: “das Zweite zur Hälfte” oder eben wie die Uhrzeit: “hal­bzwei”

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    1. Kristin Beitragsautor

      Hi Niklas, danke für die Rück­mel­dung! Die Bedeu­tungsangabe stammt aus Pfeifers Ety­mol­o­gis­chem Wörter­buch und ich denke, dass damit schon das gemeint ist, was Du sagst, nur dass Du es ele­gan­ter aus­ge­drückt hast. Der Ver­gle­ich mit der Uhrzeit ist super, das ist mir gar nicht aufgefallen.
      Im DWB ist klar erkennbar, wie es gemeint ist, da mehr Kontext:

      …die mei­n­ung, dasz der zäh­lende auf die mitte oder hälfte von 1 zu 2 gelange, das andere (zweite) halb erre­icht sei

      Dort wer­den sog­ar drit­thalb ‘zweiein­halb’, vierthalb ‘dreiein­halb’ etc. angeführt.

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  2. Brenda

    Ich kenne das Wort auch in der Bedeu­tung “näch­ste” (z.B. aus Märchen, “Am anderen Tag” = “Am näch­sten Tag”), habe es nur gele­gentlich in Tex­ten aus dem 18. Jahrhun­dert als Syn­onym für “zweite” gese­hen. Seit­dem aber habe ich den Ver­dacht gehegt, dass es ein Übrig­bleib­sel des Duals ist. Die Silbe ‑ter- kommt näm­lich in eini­gen lateinis­chen und alt­griechis­chen Adjek­tiv­en vor, wo es ursprünglich eine Zweier­gruppe beze­ich­n­tete. (Lat. alter, uter, neuter; Griech. amphoteroi, poteros, allotrios. In Griechisch wird ‑ter- auch für die Bil­dung des Kom­par­i­tivs gebraucht.) 

    Ich habe diese Behaup­tung in ein­er Griechis­chvor­lesung gehört und kann deshalb nicht viel genaueres darüber bericht­en; ich habe auf der Schnelle nur fol­gende Bestä­ti­gung gefun­den: “The adjec­tives uter and neuter are not duals, but sin­gu­lars with an end­ing ‑ter that asso­ciates them with the dual.” (Aus: Bell, Andrew J.,The Latin Dual and Poet­ic Dic­tion, Lon­don 1923, S. 28; es gibt mehr dazu im fol­gen­den Kapi­tel des Buch­es)

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    1. Kristin Beitragsautor

      Hal­lo Bren­da, lei­der bin ich jen­seits des Ger­man­is­chen sprachgeschichtlich so gar nicht zuhause, daher kann ich das nicht beurteilen.
      Der Kluge gibt als indoger­man­is­che Wurzel *antero- oder *ontero- an, dabei han­delt es sich wohl um eine “Gegen­satz­bil­dung auf *-tero- zu einem Pronom­i­nal­stamm”. Die Grimms sprechen von ein­er Kom­par­a­tiv­bil­dung. Ety­mon­line hat mehr Infos zur idg. Form:

      from PIE *an-tero-, vari­ant of *al-tero- “the oth­er of two” […], from base *al- “beyond” + adj. comp. suf­fix *-tero-.

      Zum The­ma am anderen Tag: Stimmt, das kenne ich auch (ver­trauter klingt noch am anderen Mor­gen). Witzig, dass es im Englis­chen grade umgekehrt ist, da liegt the oth­er day in der Vergangenheit.
      Eben habe ich im obi­gen Ety­mon­li­neein­trag gese­hen, dass das aber nicht immer so war — ursprünglich war es wohl auch da der näch­ste Tag, das wech­selte dann zum vorherge­hen­den Tag und kann heute ein nahe zurück­liegen­der Tag (gestern, vorgestern) sein.
      Wäre auch mal span­nend zu schauen, wann und wie das passiert ist.

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  3. Achim

    Als im Mai geboren­er muss ich die Fest­stel­lung, dass es noch einen Mai geben kön­nte, natür­lich begrüßen. Nochmal Geburt­stag, nochmal Geschenke 😉 Haupt­sache, ich altere dann nicht auch schneller.

    Mir ist bei den Uhrzeit­en einge­fall­en, dass früher (man find­et es z.B. auf alten The­aterzetteln in Pro­grammheften) Uhrzei­tangeben wie “7 1/2 Uhr abends” üblich waren. Ich tippe ja, dass das “19.30” und nicht “18.30” bedeutet, aber hat da jemand Hand­festeres als meine Ver­mu­tung? Ist ja inter­es­sant, dass das neben “halb acht” existiert hat.

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    1. Kristin Beitragsautor

      Hmhm, es gab sowohl 1/2 7 als auch 7 1/2 — das erste ‘halb sieben’, das zweite ‘halb acht’. Ich habe gestern mal ein paar Belege gesucht, aus denen die Bedeu­tung so recht klar her­vorge­ht, reiche ich dem­nächst noch nach 🙂
      Und einen schö­nen Geburtstagsmonat!

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  4. Wentus

    Im Englis­chen bedeutet aber “half sev­en” etwas anderes, näm­lich “halb acht”. Über­haupt ist es vie­len Aus­län­dern schw­er zu ver­mit­teln, warum wir “halb acht” sagen. Ganz schwierig wird es bei “vier­tel acht” und “dreivier­tel acht.

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  5. anonymous

    Bei Max Frisch taucht “sel­ban­der” eben­falls auf; so alt ist seine Lit­er­atur nun auch wieder nicht. Das let­zte Mal ist mir das, glaube ich, im Stiller aufge­fall­en. Das waere dann 1954. Vielle­icht ist sel­ban­der im Schweiz­erischen noch ueblicher?

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