Witwe vs. Witwerin

Von Kristin Kopf

Im Sprachlog geht es zur Zeit um die Form Witwerin (statt Witwe) und ihre möglichen Ursachen. (Kurzver­sion: Es han­delt sich um eine Analo­giebil­dung zu all den anderen abgeleit­eten For­men auf -in, die an Per­so­n­en­beze­ich­nun­gen auf -er ange­hängt werden.)

In den Kom­mentaren kam die Frage auf, ob Witwe und Witwerin ein­mal gle­ich­berechtigt nebeneinan­der existierten:

Waren damals die Witwerin ein gle­ci­h­berechtigtes Syn­onym zur Witwe? Oder war Witwe immer das Grund­wort und die Witwerin war immer eine zweifel­hafte Neben­form. Wann und warum set­zte sich die Witwe durch?

Nun haben wir lei­der keine per­fek­ten his­torischen Kor­po­ra, aber ich glaube, dass das, was es so gibt, auch ein ganz gutes Bild ver­mit­telt.1 Ich habe mal bei Google­Books alle deutschsprachi­gen Büch­er nach Jahrhun­derten getren­nt durch­sucht, begin­nend mit dem 16. Jahrhun­dert. (Vorher sah es ja bekan­ntlich mau aus mit dem Buchdruck.)

Kaum einer mag die Witwerin

Die Ergeb­nisse zeigen recht deut­lich, dass Witwerin immer nur eine (mit gutem Willen) Neben­form war:Mhm, sie kommt in diesen Tex­ten erst­mals im 18. Jahrhun­dert vor, und zwar mit 5 Bele­gen (0,7%). Dann wer­den es 13 (1,6%) und schließlich 22 (2,7%), oft sind die Belege aber keine richti­gen, weil es darum geht, dass es das Wort nicht gebe, wie hier:

Die Sprache hat aber viele weibliche Substantiva ohne die Silbe in, als: Mutter (nicht Vaterin), Wittwe (nicht Wittwerin), Tochter (nicht Sohnin), Schwester (nicht Bruderin).

Die Sprache hat aber viele weib­liche Sub­stan­ti­va ohne die Silbe in, als: Mut­ter (nicht Vaterin), Wit­twe (nicht Wit­twerin), Tochter (nicht Sohnin), Schwest­er (nicht Bruderin).”

Die Witwerin wird also zwar immer wieder gebildet, ist aber nicht von großer Bedeu­tung und scheint es auch nie gewe­sen zu sein.

Der und die Witwe

Die Witwe hat­te übri­gens schon früh ein männlich­es Gegen­stück, das aber … auch Witwe lautete.

Der Grund dafür ist in der althochdeutschen Wort­bil­dung zu suchen: Für Per­so­n­en fügte man an den Wort­stamm entwed­er -o für Män­ner (beck-o ‘Bäck­er’) oder -a für Frauen (beck-a) an.

Dum­mer­weise kam dann die Neben­sil­ben­ab­schwächung, bei der alle unbe­ton­ten Sil­ben in Schwa (-e) ver­wan­delt wur­den, sodass es für bei­de Geschlechter beck-e hieß. Dieses Schwa fiel dann auch noch in vie­len Dialek­ten weg.

So wurde auch aus ahd. wituw‑a und wituw‑o bei­de Male witw‑e. Die männliche Form der Witwe blieb laut DWB noch bis ins 16. Jahrhun­dert erhal­ten, ver­schwand dann aber – ver­mut­lich zugun­sten der deut­licheren Form Witwer, genau­so wie der Beck hochsprach­lich ver­schwand und durch den Bäck­er erset­zt wurde.2

Dass sich die Witwe hal­ten kon­nte (im Gegen­satz zu z.B. die Beck(e)), hängt wahrschein­lich mit dem Beze­ich­neten zusam­men: Eine Frau, deren Mann ver­stor­ben war, musste viel eher als solche markiert wer­den als umgekehrt, hat­te das für sie doch erhe­bliche soziale und finanzielle Kon­se­quen­zen. Der Mann hinge­gen kon­nte nach wie vor z.B. über seinen Beruf definiert wer­den. Die weib­liche Form wird daher (das behaupte ich ein­fach mal so) viel häu­figer gebraucht wor­den sein als ihr männlich­es Äquivalent.

Quellen:

Fußnoten:

1 Method­is­che Prob­leme damit gibt es massen­weise. Ich nenne nur ein paar:

  • Die Bücherzahl unter­schei­det sich von Jahrhun­dert zu Jahrhun­dert ganz massiv.
  • Ältere Büch­er sind in Frak­tur geschrieben, die oft fehler­haft tex­terkan­nt wird, daher ent­ge­hen uns Belege.
  • Einige Büch­er sind in ver­schiede­nen Aus­gaben mehrmals erfasst, das ist beson­ders für die Jahrhun­derte schlimm, in denen sowieso wenige Büch­er vorhan­den sind.
  • Die Datierung ist nicht immer zuverlässig.

2 -er stammt übri­gens aus dem Lateinis­chen -arius, das erst­mals im Althochdeutschen als -ari auf­taucht, im Mit­tel­hochdeutschen dann zu -ære und schließlich zu -er wird. Es über­nahm die Per­so­n­en­beze­ich­nungs­bil­dun­gen zunächst gradu­ell und schließlich qua­si kom­plett. Aber dazu vielle­icht ein andermal.

4 Gedanken zu „Witwe vs. Witwerin

  1. Lietuvis

    Das Wort „Witwe“ lässt sich rel­a­tiv gut bis in indoger­man­is­che Zeit zurück­ver­fol­gen, außer dem ger­man­is­chen Befund haben wir lat. vid­ua, air. fedb, aind. vid­hávā, akslav. vьdo­va: *wid­hewā

    Und obwohl all diese Sprachen über reich­haltige Motion ver­fügten, gibt es kein (bezeugtes) männlich­es Gegen­stück, wed­er ererbt noch neuge­bildet (von „Witwer“ abge­se­hen, lat. vidu­us bedeutet etwas anderes.)

    Die Aus­gangs­be­deu­tung scheint aber weit­er gefasst gewe­sen zu sein, näm­lich nicht nur „Witwe“, son­dern auch „ledi­ge Frau, Jungfrau“, also generell „Frau ohne Mann“.

    Jet­zt kann man spekulieren, dass die Frau ja auf einen Mann als Ver­sorg­er angewiesen war und deshalb eine Frau ohne Mann etwas beson­ders war, das speziell benan­nt wer­den musste, während ein Mann ohne Frau dessen nicht bedurfte.

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    1. Lietuvis

      Ich muss mich kor­rigieren: im Rus­sis­chen gibt es neben вдова (vdo­va, der Fort­set­zer von urslav. *vьdo­va) den Witwer вдовец (vdovec).

      Das Wort ist aber im Altkirchenslavis­chen nicht belegt und sich­er auch von der weib­lichen Form abgeleit­et, anson­sten würde ich вдов (vdov) aus urslav. *vьdovъ erwarten.

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  2. Kim

    Als alle anderen die Augen ver­dreht­en und dacht­en “what­ev­er”, weil der Prof sich im Ety­mol­o­gisieren ver­lor, waren meine glänzend und ich lauschte geban­nt – und so kam es mir jet­zt auch vor. Die eingestreuten Exkurse machen mich gle­ich wieder neugierig auf ganz viele Dinge… Danke 🙂

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