Anglizismus des Jahres ist das Wort Lockdown als Bezeichnung für eine Mischung aus mehr oder weniger strengen Ausgangsbeschränkungen, Einschränkungen der Bewegungs- und Versammlungsfreiheit und Kontaktbeschränkungen bei gleichzeitigem Schließen ausgewählter öffentlicher Einrichtungen. Dass die COVID-19-Pandemie nach dem Wort des Jahres („Corona-Pandemie“) und dem Unwort des Jahres [PDF] („Corona-Diktatur“) auch beim Anglizismus des Jahres ihre Spuren hinterlassen würde, ist angesichts der tiefgreifenden Umwälzungen des öffentlichen Lebens und Handelns, das sie verursacht hat, sicher nicht überraschend. Das Wort Lockdown ist aber auch in anderer Hinsicht ein perfekter Anglizismus des Jahres: Zum einen ist es brandneu – in der aktuellen Bedeutung ist es erst im März 2020 ins Deutsche entlehnt worden. Zum anderen ist es in kurzer Zeit zu einem selbstverständlichen und nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil der deutschen Sprache geworden.
Vor- und Frühgeschichte
Das Wort lockdown taucht im Englischen zum ersten Mal im Jahr 1832 auf, bezeichnete zunächst aber einen Befestigungsmechanismus im Floßbau und dann verschiedene Arten von Pflöcken, Haken und Sicherungsstiften.
Mit dem heutigen Lockdown hat dieser in der Alltagssprache selten verwendete technische Terminus aber vermutlich nichts zu tun. Dessen Vorläufer findet sich erst ab den 1970er Jahren, zunächst im amerikanischen Englisch. Das Oxford English Dictionary nennt folgenden Erstbeleg (wobei die Selbstverständlichkeit, mit der das Wort hier verwendet wird, vermuten lässt, dass es im Sprachgebrauch zu dieser Zeit schon etabliert war):
A full-scale lockdown, the first in the 18-year history of the 1.950-inmate Vacaville facility, was imposed immediately after the knifing. [Santa Cruz Sentinel, 3. Dezember 1973]
Hier bezeichnet das Wort eine Situation, in der die Inhaftierte in einem Gefängnis (oder hier, einem Gefängniskrankenhaus), aus Sicherheitsgründen in ihre Zellen eingeschlossen werden. Das ist noch nicht die heutige Bedeutung, aber – und das ist einer dieser merkwürdigen Zufälle, die einem niemand glauben würde, wenn man sie erfände – der Artikel, aus dem dieser Erstbeleg stammt, handelt von einer Messerattacke auf einen berüchtigten Serienmörder, der ausgerechnet Juan Corona hieß.
Anfang der 1980er Jahre erfolgte eine entscheidende Bedeutungserweiterung: Das Wort wurde jetzt auch für Situationen verwendet, in denen nicht die Bewegungsfreiheit derjenigen eingeschränkt wurde, die eine Gefahr darstellen, sondern derjenigen, die vor einer Gefahr geschützt werden sollen:
Officials also confirmed that they instituted a “security lockdown” at the PUREX plant Monday when a can containing less than 100 grams of plutonium sludge was found to be missing. [Arizona Republic, 16. Dezember 1984]
Ab den 2000ern wird das Wort dann auch verwendet, wenn die Bewegungsfreiheit in ganzen Städten eingeschränkt wird, wie in diesem Artikel über New York nach den Terrorangriffen auf das World Trade Center:
We heard the city was on lockdown and that it wasn’t possible to get in. They went anyway. [Quill Magazine, 1. Mai 2002]
Ab März 2020 findet sich das Wort dann in der Pandemie-bezogenen Bedeutung, in der es auch ins Deutsche entlehnt wurde. Das Wort erscheint sehr plötzlich in den weltweiten Google-Suchtrends der zweiten Märzwoche und steigt in der letzten Märzwoche auf einen Höchststand. Ein Grund für dieses Interesse könnte die in Indien am 25. März 2020 verhängte Aussetzung der Bewegungsfreiheit im gesamten Land sein, eine der ersten Maßnahmen dieser Art, die offiziell als lockdown bezeichnet wurden.
Entlehnung und jüngere Geschichte
Nachdem zu Beginn der Pandemie zunächst Umschreibungen wie „Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie“ oder „Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus“ verwendet wurden,
finden sich frühe journalistische Belege für das Wort lockdown in der Berichterstattung über Indien, z.B hier:
Darunter sind vor allem junge männliche Tagelöhner, aber auch Familien, die nach dem vollständigen “Lockdown”, wie die Ausgangssperre in Indien genannt wird, keine Einkünfte und in vielen Fällen auch kein Dach mehr über dem Kopf haben. [tagesschau.de, 29.3.2020]
Zu diesem Zeitpunkt ist das Wort im allgemeinen Sprachgebrauch aber vereinzelt auch schon als Bezeichnung für die Maßnahmen in Wuhan zu finden, in den Folgemonaten stabilisiert sich die Verwendungshäufigkeit auf hohem Niveau und steigt im Oktober – im Vorlauf des bis heute andauernden zweiten deutschen Lockdowns – noch einmal an.
Das Wort Lockdown hat sich schnell etabliert und zeigt sich äußerst produktiv. Es kommt in Dutzenden von Wortverbindungen und zusammengesetzten Wörtern vor (das Leibniz-Institut für Deutsche Sprache hat auf seiner Wortschatzliste zur Pandemie 27 etablierte Ausdrücke, aber in den Zeitungstexten im Deutschen Referenzkorpus findet sich ein Vielfaches.
Auf der Grundlage dieser zusammengesetzten Wörter und Wortverbindungen ließe sich eine Kulturgeschichte des Lockdowns rekonstruieren.
Viele der Zusammensetzungen beziehen sich auf eine im Zuge der Pandemie immer wieder diskutierte Frage: Wie streng sollen oder dürfen die Maßnahmen sein, und ab wann zählen sie wirklich als „Lockdown“? Es gibt den abgespeckten Lockdown, den kleinen Lockdown, den weichen Lockdown, den Lockdown light, den Minilockdown, den Softlockdown, das Lockdownchen und den in dünnen Scheibchen beschlossenen Salamilockdown, aber auch den harten Lockdown und den Volllockdown.
Das Hin und Her beim lockdownen zeigt sich an Wörtern wie Jo-Jo-Lockdown, Lockdown-Lockerungen, Lockdown-Verlängerung, Lockdown-Verschärfung.
Auch die Spaltung der Gesellschaft bezüglich ihrer Positionen zum Lockdown spiegelt sich im Wortschatz wieder. Es gibt den Lockdown-Gegner, den Lockdown-Kritiker, den Lockdown-Rebell, den Lockdown-Protest auf der einen Seite, und den Lockdown-Befürworter oder gar Lockdown-Fetischisten auf der anderen. Daneben gibt es Lockdown-Sünder, Lockdown-Brecher, Lockdown-Gewinner und Lockdown-Profiteure.
Und auch die (großen und kleinen) Konsequenzen des Lockdown lassen sich am Wortschatz ablesen – von der Lockdown-Frisur, den Lockdown-Kilos der Lockdown-Langeweile und dem Lockdown-Blues bis zur Lockdown-Depression, den Lockdown-Opfern und der Lockdown-Pleitewelle.
Nicht nur Substantive hat uns das Wort Lockdown beschert. Auch Adjektive wie lockdowngeplagt, lockdownbedingt und lockdownähnlich finden sich, und sogar als Verb taucht das Wort bereits vereinzelt auf:
Als wollten alle mal mitreden — und womöglich auch mal lockdownen. Oder heißt es downlocken? Egal. Wir wollen auch mal schließen dürfen… [Lukas Hammerstein, BR, 5.11.2020]
Wir waren sieben Wochen gelockdownt in der Wohnung – ich wurde zweimal von der Guardia Civil beim Einkaufen festgenommen. [Fil Tägert, RND, 12.12.2020]
Jetzt haben wir uns eigentlich wieder gefreut, dass wir mehr spielen und jetzt ist wieder alles gelockdowned. [Johnny Schuhbeck, Deutschlandfunk, 4.12.2020]
Zukunft
Ob Lockdown zu einem singulären Namen für das Leben während der COVID-19-Pandemie oder zu einem allgemeinen Wort für die betreffenden Maßnahmen wird, hängt sicher davon ab, wie bald wir nach dem – derzeit ja noch nicht absehbaren – Ende dieser Pandemie mit der nächsten konfrontiert sind. Da zumindest die Gesellschaften Europas, der USA und Lateinamerikas gezeigt haben, dass sie selbst mit Vorwarnung nicht willens und in der Lage sind, eine entstehende Pandemie im Keim zu ersticken, ist anzunehmen, dass das recht bald der Fall sein wird. Wir können uns dann mit zunehmender Lockdown-Müdigkeit seitens der Politik auf immer weitere abschwächende Wortbildungen gefasst machen – Femtolockdown, und homöopathischer Lockdown warten schon auf ihren Auftritt.
Fazit
Die Wörterwahl „Anglizismus des Jahres“ soll zeigen, dass Entlehnungen eine Sprache grundsätzlich bereichern – dass sie den Wortschatz erweitern, ausdifferenzieren, ausdrucksstärker machen. Aus dieser Sicht sind das Wort Lockdown und die große Wortfamilie, die sich in seinem Umfeld gebildet hat, Paradebeispiele. Ohne sie könnten wir über unser Erleben der Pandemie und ihrer gesellschaftlichen Konsequenzen kaum so vielschichtig sprechen, wie wir es tun. Stattdessen würden wir ständig über das behördendeutsche Wort Maßnahmen stolpern.
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