Meist märchenhaft? Mehr Etymologien (und eine Siegerehrung)

Von Kristin Kopf

Was zum Beispiel Advent und Akro­bat oder Gräte und Gren­ze miteinan­der zu tun haben, habe ich vor ein­er Weile schon gek­lärt. Sei­ther war bei mir irgend­wie zu viel los um die Auflö­sung des let­zten Ety­molo­gierät­sels zu Ende zu brin­gen. Auch hin­ter den noch unbe­sproch­enen Wörtern ver­ber­gen sich aber inter­es­sante Zusam­men­hänge (und ein Fehler), die für Nicht-RaterIn­nen eben­so span­nend sind. Nach­dem ich sie erhellt habe, kom­men wir dann endlich zur Siegerehrung.

Märchen und meist. Das Märchen ist eine Diminu­tiv­bil­dung zu ahd. māri ‘Nachricht, Erzäh­lung; Gerücht’. Die heutige Form des Sub­stan­tivs ist, kaum mehr gebräuch­lich, Mär — vielle­icht haben Sie den Anfang des Nibelun­gen­lieds noch im Kopf, wie “in alten maeren” viel Wun­der­bares berichtet wird,((Hier find­et sich eine Über­set­zung der ersten Stro­phe.)) oder es wei­h­nachtet bei Vom Him­mel hoch, wo “gute neue Mär” gebracht wird. Diese “kleine Erzäh­lung” bezog sich schon früh auf Aus­gedacht­es, im Gegen­satz zur Mär, die lange Zeit Fakt und Fik­tion beze­ich­nen konnte.

Aber um zu meist zu gelan­gen, müssen wir in die andere Rich­tung gehen: Das ahd. māri war von einem Verb abgeleit­et, māren ‘verkün­den, sagen’. An anderen alt­ger­man­is­chen Sprachen kön­nen wir sehen, dass es ein­mal eine speziellere Bedeu­tung hat­te: ‘preisen, loben, rüh­men, verkün­den’. Und von dort ist es seman­tisch nicht mehr weit zur idg. Wurzel *-, *- ‘groß, ansehn­lich’. Dass die auch mehr und seine Steigerungs­form meist — anfangs meris­to, also wörtlich mehrest — her­vorge­bracht hat, dürfte nie­man­den wundern.

Meer und Morast haben bei­de was mit Wass­er zu tun, das macht sie zu offen­sichtlichen Ver­wandtschaft­skan­di­dat­en. Zu offen­sichtlich? Nein: Am Anfang ste­ht tat­säch­lich bei bei­den Wörtern das indoger­man­is­che *mori/mari ‘Meer’. Im Fall von Meer verän­derte sich kaum etwas. ((Die Bedeu­tung blieb, die Form verän­derte sich über germ. mari- zu ahd. meri (durch Umlaut) und dann zu mhd. mer(e) (Neben­sil­ben­ab­schwächung und Apokope), was qua­si dem heuti­gen Meer entspricht.)) Ganz anders beim Morast: Im Ger­man­is­chen hat­te man neben mari- auch das *marisk- ‘sump­figes Gebi­et’, das irgend­wann (wann, ist etwas unklar) vom Meer-Wort abgeleit­et wurde. Nun siedel­ten damals die ger­man­is­chen Franken und Fränk­in­nen auf franzö­sis­chsprachigem Gebi­et. Sie über­nah­men recht bald das lokale Franzö­sisch, manche ihrer Wörter hiel­ten sich aber. Darunter dürfte das marisk gewe­sen sein, das als marois (später marais) ‘Sumpf, Moor’ im Franzö­sis­chen weit­er­lebte. Vielle­icht kommt es Ihnen als Paris­er Stadt­teil bekan­nt vor? Das Wort marais hat­te irgend­wie was — es gelangte später ins Nieder­ländis­che (heute moeras) und Niederdeutsche (mōras), von wo man es schließlich im 16. Jh. wieder ins Deutsche über­nahm (eine “Rück­entlehnung”). Man inte­gri­erte es dabei gle­ich ganz gründlich, indem man ihm noch ein -t am Ende ver­passte, und fer­tig war der Morast. (Das machte man damals generell gerne, aus vin sec wurde Sekt, aus saf wurde Saft etc.)

Moral und Wehmut eint das m: Moral kommt vom lateinis­chen Adjek­tiv mōrālis ‘die Sit­ten betr­e­f­fend’, das wiederum vom Sub­stan­tiv mōs ‘Sitte, Brauch’ abgeleit­et wurde. Im 16. Jh. gebrauchte man das Wort noch als ‘Lehre, die man aus etwas zieht’ (die Moral von der Geschicht), im 18. Jh. nahm es die heutige Bedeu­tung an. Der Mut in Wehmut geht nun gemein­sam mit dem lat. mōs auf idg. *-, *-, *- ‘hefti­gen und kräfti­gen Wil­lens sein, heftig streben’ zurück. Die Geschichte von Wehmut selb­st ist noch etwas ver­wick­el­ter, ich ver­weise mal nach hier.

Stern und Vanes­sa sind Ver­wandte neueren Datums: Der Name Vanes­sa ist wohl eine Kun­st­bil­dung von Anfang des 18. Jh. Jonathan Swift (bekan­nt z.B. durch »Gul­liv­ers Reisen«) dachte sie sich für Esther Van­hom­righ aus (vgl. z.B. in diesem Gedicht). Das Van kommt vom Nach­na­men, das Ess(a) vom Vor­na­men. Esther wiederum ist ein alttes­ta­men­tarisch­er Name. Wer sich grob mit Sprach­fam­i­lien ausken­nt, wird jet­zt die Stirn run­zeln: Hebräisch ist ja keine indoger­man­is­che Sprache. Es hat die Esther aber auch nicht erfun­den, son­dern über­nom­men — von per­sisch sitareh ‘Stern’. Per­sisch ist indoger­man­isch, und das Wort lässt sich let­ztlich auf die Wurzel *ster- zurück­führen. Ihr Bezug zu unserem heuti­gen Stern ist eben­falls offensichtlich.

Vanille und Vagi­na haben einen sehr direk­ten Bezug: Die Vanille stammt von der spanis­chen vainil­la — kein Wun­der, stammt die Pflanze doch aus Südameri­ka. Ende des 17. Jh. tritt das Wort auch im Deutschen auf. Das spanis­che vainil­la ist die Verkleinerungs­form von vaina ‘Schei­de, Fut­ter­al, Hülse, Schote’, was von lateinisch vagī­na ‘Schw­ertschei­de, Schei­de, Ähren­hülse’ stammt. Wer schon ein­mal Vanillepflanzen gese­hen hat, ver­ste­ht die Benen­nung der Orchidee und damit auch ihres Gewürzes. Vagi­na wurde im 18. Jh. aus medi­zinis­chen Tex­ten, die zumeist auf Latein waren, ins Deutsche übernommen.

Bei vage und vakant habe ich mich wohl etwas zu weit aus dem Fen­ster gelehnt. Sie sind zwar laut­lich und seman­tisch sehr nah aneinan­der, aber zusam­men­brin­gen lassen sie sich nicht: Vage haben wir aus dem Franzö­sis­chen, wo es dem lat. vagus ‘umher­schweifend, unstet’ nach­fol­gt. Das kommt von der idg. Wurzel u̯əg- ‘gebo­gen sein’. Vakant haben wir Anfang des 17. Jh. direkt aus dem Lateinis­chen über­nom­men, wo es wiederum von vacāre ‘leer, frei (von etw.) sein, müßig sein’ abgeleit­et wurde. Das stammt sein­er­seits von vānus ‘leer, nichtig’, und das möglicher­weise von der idg. Wurzel euə- ‘man­geln, leer’. Zwis­chen den bei­den beste­ht dann aber kein Bezug. Da hab ich wohl beim Zusam­men­basteln einen Fehler gemacht, das tut mir leid — ich hoffe, die RaterIn­nen sind daran nicht völ­lig verzweifelt. (Für die Aus­lo­sung habe ich die Lösun­gen, die die bei­den zusam­men­brin­gen, trotz­dem berücksichtigt.)

Siegerehrung

Es gab 15 voll­ständi­ge und kor­rek­te Lösun­gen, die ich chro­nol­o­gisch durch­num­meriert habe. Der Ran­dom Num­ber Gen­er­a­tor hat dann einen Sieger generiert:

16-12-22Das ist Thomas Ves­per — ganz her­zlichen Glück­wun­sch! Das gewonnene kleine Ety­mo­log­icum (übri­gens ein ganz exzel­lentes Wei­h­nachts­geschenk, falls hier jemand noch Tipps sucht!) schicke ich dem­nächst los. Auch allen anderen Danke für’s Mit­machen, das näch­ste Rät­sel kommt bestimmt!

 

2 Gedanken zu „Meist märchenhaft? Mehr Etymologien (und eine Siegerehrung)

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