Ich bin (k)ein Berliner

Von Susanne Flach

Machen wir aus aktuellem Anlass einen Aus­flug in deutsch-deutsch­er Geschichte und erzählen den lusti­gen Schwank vom amerikanis­chen Präsi­den­ten und seinem Alter Ego, dem frit­tierten Marme­ladenkissen. Die Leg­ende, dass sich John F. Kennedy bei sein­er Rede in Berlin am 26. Juni 1963 unwis­send als jel­ly donut beze­ich­nete und die Berlin­er Bevölkerung zu amüsierten Mitlei­ds­bekun­dun­gen hin­riss, ist in der englis­chsprachi­gen Welt fast so schw­er tot zu kriegen, wie das lin­guis­tis­che Nicht­phänomen von dre­itausend Wörtern der Eski­mos für Schnee.

Die Mär vom Krapfen geht so: Kennedy sagte am Ende sein­er Rede den berühmten Satz:

Ich bin ein Berliner.

Die West­ber­lin­er gröl­ten. Es bedarf aber schon ein­er gewagten sprach­lichen Spitzfind­igkeit, als deutsch­er Mut­ter­sprach­ler hier die Bedeu­tung ‘Ich bin ein Kon­fitüren­ballen’ her­auszule­sen. Aber genau das ist in den 80er Jahren in den USA geschehen: man begann, sich über die man­gel­nden Deutschken­nt­nisse von Kennedy und seinem Redeschreiber lustig zu machen, denn die Berlin­er gröl­ten ange­blich, weil Kennedy sagte “I’m a jel­ly donut”.

Bis zum heuti­gen Tag ergötzen sich Kolum­nis­ten und andere daran, dass sich ein igno­ran­ter Amerikan­er mit rudi­men­tären Ken­nt­nis­sen der deutschen Gram­matik und Lexik zum Gespött der ganzen Welt machte. Der Kolum­nist der New York Times, der laut Wikipedia die Leg­ende angestoßen haben kön­nte,* schreibt dazu:

What they [Kennedy und sein Über­set­zer] did not know, but could eas­i­ly have found out, was that such cit­i­zens nev­er refer to them­selves as ”Berlin­ers.” They reserve that term for a favorite con­fec­tion often munched at break­fast. (William J. Miller, “I’m a jel­ly-filled dough­nut”, New York Times, 30. April 1988.)

Wer ist hier igno­ran­ter? Ein Amerikan­er, der von seinem Über­set­zer einen gram­matikalisch und idioma­tisch ein­wand­freien deutschen Satz serviert bekam, oder ein Amerikan­er, der behauptet, Berlin­er wür­den sich nie Berlin­er nen­nen, sie sich aber zum Früh­stück servieren? Vielle­icht hätte Miller einen Mut­ter­sprach­ler fra­gen sollen. Kennedys Über­set­zer, Robert H. Lochn­er**, lebte vom sech­sten Leben­s­jahr zunächst bis zum Abitur in Berlin — der Mann wusste sehr genau, dass er dem US-Präsi­den­ten keinen Berlin­er in den Mund legte.

Nun muss ich hier sicher­lich nicht näher erläutern, dass Ich bin ein Berlin­er die einzige Möglichkeit ist, im Deutschen genau das zum Aus­druck zu brin­gen, was Kennedy sagen wollte (Eich­hoff 1993, siehe auch Ana­tol im Sprachlog, 2008). Der Punkt ist ein ander­er: natür­lich kann man mit dem Ausspruch auch meinen, man sei ein Spritzge­bäck, sollte man sich in ein­er Sit­u­a­tion wiederfind­en, die die Iden­ti­fika­tion mit ein­er Wind­beutel­mu­ta­tion erfordert.

Das ist das Fünkchen Wahrheit dieser Leg­ende. Aber wäre an der zweit­en Lesart mehr dran, als ein äußerst schwach­es Missver­ständ­nis­po­ten­tial, wäre der ange­blich so pein­liche Fehler nicht fast 25 Jahre unbe­merkt gebleiben. In Deutsch­land segelt der schein­bare Lap­sus sog­ar seit über 47 Jahren nahezu unbeachtet unterm Radar. Immer­hin kann man nicht behaupten, dass Kennedys Ich bin ein Berlin­er als­bald in Vergessen­heit geri­et — es ist ein­er der Sätze der deutschen Nachkriegs­geschichte über­haupt. Aber eben nicht, weil Kennedy sich als Pfannkuchen outete.

Die Moti­va­tion für diesen Beitrag? Nicht, dass man sich über die Sage beson­ders aufre­gen müsste — höch­stens über die Aus­sage einiger Deutschlern­er, die Mut­ter­sprach­ler jeglich­es Sprachge­fühl absprechen und meinen, sie beherrscht­en die Sub­til­itäten deutschen Artikel­ge­brauchs bess­er, als ihnen wider­sprechende Deutsche und Öster­re­ich­er : “I took Ger­man 4 years in High School” oder “No arti­cle. It’s just wrong. End of dis­cus­sion” (hier; span­nend auch der Diskus­sionsver­lauf zu dem Ein­trag auf Wikipedia). Oder über die Besser­wiss­er, die sich am Regel­w­erk der deutschen Artikel­gram­matik ent­lang hangeln und mir sagen, dass Ich bin Bad­ner richtiger und patri­o­tis­ch­er sein soll, als Ich bin ein Bad­ner. Frag­würdig, weil anmaßend, ist das Weglassen des Artikels, wenn ich sagen würde Ich bin Ham­burg­erin. Anders gesagt: Sprachge­brauch ist natür­lich immer ein biss­chen fein­er, als sein reduzieren­des Regelwerk.

Es ist auch unnötig, den Deutschen unter­schwellig man­gel­nden Humor zu unter­stellen, wenn wir darauf beste­hen, dass sich Kennedy noch nicht mal ansatzweise missver­ständlich aus­drück­te. Die mögliche, obgle­ich sehr unwahrschein­liche Inter­pre­ta­tion macht Kennedys Spruch für Deutschmut­ter­sprach­ler auf den zweit­en Blick ja nicht unbe­d­ingt weniger lustig.

Offen­sichtlich hat sich das zumin­d­est teil­weise herumgesprochen:

Regret­tably, there is less truth in the famous sto­ry that by say­ing “ich bin ein Berlin­er,” John F Kennedy was inform­ing the peo­ple of Berlin that he was a jam dough­nut. Peo­ple who speak Ger­man bet­ter than I do insist that although the word Berlin­er can also mean a cer­tain kind of pas­try, there was, alas, no ambi­gu­i­ty at all. (Bri­an Vin­er, “Slight mis­trans­la­tions can cause big prob­lems on for­eign exchange”, Inde­pen­dent, 11. Feb­ru­ar 2010)

Aber erweckt Vin­er hier den Ein­druck, als glaube er den mut­ter­sprach­lichen Intu­itio­nen wirk­lich? (Wenn er denn über­haupt einen Mut­ter­sprach­ler kon­sul­tiert hat.) Offen­sichtlich dür­fen wir uns damit zufrieden geben, dass die Geschichte zumin­d­est im englis­chsprachi­gen Raum zu schön ist, um — regret­tably — wirk­lich wahr zu sein.

Vielle­icht habe ich mit meinem Post einen Beitrag zum Ein­heits­brim­bo­ri­um gleis­tet, der ohne Glüh­wein und klin­is­che Feier­lichkeit­en auskommt — weil der eine oder die andere die Anek­dote noch nicht kan­nte. Wäre immer­hin etwas.

Dem­nächst… Eurokrat erregt Auf­se­hen: “Ich bin ein Franzbrötchen!”

*Eich­hoff (1993: 71) schreibt den Ursprung ein­er Aus­gabe des Mag­a­zins Newsweek aus dem Jan­u­ar 1988 zu.

**In einem Nachruf beschrieb die BBC Lochn­er als ‘unknown immor­tal’: “And then it struck me that if it had not been for one sin­gle mis­take in his pro­fes­sion­al career we still would­n’t have heard of him.” BBC Radio 4, “I’m a jel­ly dough­nut”, 3. Okto­ber 2003 (online: 6. Okto­ber 2003).

Eich­hoff, Jür­gen. 1993. “Ich bin ein Berlin­er”: A His­to­ry and a Lin­guis­tic Clar­i­fi­ca­tion. Monat­shefte, 85(1): 71–80.

11 Gedanken zu „Ich bin (k)ein Berliner

  1. simop

    Ok, über dieses fälschliche Missver­ständ­nis hat­te ich vorher noch nicht gelesen.
    Lustiger­weise hat im Fre­un­deskreis mal genau diese nicht vorhan­dene Fehlin­ter­pre­ta­tion für einen lusti­gen Abend gesorgt — als wir mein­ten, wir hät­ten diese Zwei­deutigkeit entdeckt… 😉

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  2. Max

    Das Missver­ständ­nis ist so leicht zu klären: in Berlin heisst das “Pfannkuchen”. “Berlin­er” sagt man auf dem Rest des Planeten.

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    1. suz Beitragsautor

      @simop: span­nend — aber bestätigt meine These, obwohl ich schon befürchtet hat­te, dass die Leg­ende mit­tler­weile ziem­lich abge­droschen ist… Ist sie zumin­d­est für Anglisten/Linguisten.

      @Max: ganz so leicht ist es dann doch nicht zu erk­lären: denn erstens heißt das Bäck­ereierzeug­nis mit­nicht­en über­all anders als in Berlin nur ‘Berlin­er’. Im Gegen­teil: in den meis­ten Gegen­den herrschen andere Beze­ich­nun­gen vor (siehe kleine Auswahl in meinem Beitrag, in dem ich fast alle gängi­gen Beze­ich­nun­gen bedi­ent habe). Aber: ‘Berlin­er’ wird über­all verstanden.
      Auch wenn Men­schen im Haupt­stad­tex­il mir bericht­en, dass sie in ein­er Bäck­erei mit “Zwei Brötchen, bitte” unter Umstän­den nicht bedi­ent wer­den, so weiß auch ein Berlin­er, dass Pfannkuchen im Rest der Repub­lik (oder auf Hochdeutsch) ‘Berlin­er’ genan­nt wird. Ob die Berlin­er das 1963 auch schon wussten, darf in Frage gestellt wer­den — ist aber irrelevant… 

      …denn zweit­ens sug­geriert die Logik, das Missver­ständ­nis kommt/kam nur auf­grund der Beze­ich­nung ‘Pfannkuchen’ in Berlin gar nicht erst auf, dass Kennedys Spruch über­all dort missver­standen wird/wurde, wo ‘Berlin­er’ eine alter­na­tive Beze­ich­nung des Marme­ladend­ings ist — und das ist nach­weis­lich nicht passiert, wed­er in Berlin, noch im Rest der Repub­lik, noch in Öster­re­ich oder der Schweiz.
      Mit anderen Worten: hätte Kennedy an den Lan­dungs­brück­en bei hypo­thetisch ähn­lich welt­poli­tis­ch­er Brisanz Ich bin ein Ham­burg­er gesagt, hät­ten ihn alle kor­rekt ver­standen — obwohl ‘Ham­burg­er’ über­all ‘Ham­burg­er’ heißt, auch in Hamburg.

      Erk­lärung: der Kon­text. Bei ein­er Rede von welt­poli­tis­ch­er und zeit­geschichtlich­er Wichtigkeit wer­den schw­er­lich seman­tis­che Bere­iche der Früh­stücks­beiga­ben aktiviert — solange die fragliche Kon­struk­tion pol­y­semisch ist, also the­o­retisch zwei­deutig. Hätte Kennedy gesagt Ich bin ein Franzbrötchen, dann hät­ten zumin­d­est die Ham­burg­er gelacht: weil ‘Franzbrötchen’ nicht die intendierte Bedeu­tung von ’sich zuge­hörig fühlen, seine Zuge­hörigkeit aus­drück­en’ aktiviert. [So, das war kog­ni­tive Lin­guis­tik im Schnelldurchlauf.] 

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    1. suz Beitragsautor

      Das mag sein — die Öster­re­ich­er wider­sprachen in der fraglichen Diskus­sion lediglich der Ansicht einiger Deutschlern­er, dass der Artikel in dieser Kon­struk­tion ungram­ma­tisch sei. Das ist er natür­lich nicht. (Ich wage sog­ar die Behaup­tung, dass in den südlichen Deutschdi­alek­ten der Artikel sog­ar sehr viel häu­figer gebraucht wird als ander­swo. Weil ich das aber nicht auf mehr als meine Intu­ition auf­bauen kann bzw. auf die Aus­sage ein­er Öster­re­icherin, die den Artikel sog­ar “notwendig” fand, sollte man das mit Vor­sicht genießen. An der grund­sät­zlichen Argu­men­ta­tion ändert es natür­lich nichts.)

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  3. Lukas

    Mh, wenn ich so nach­denk: Notwendig ist der Artikel bei Städten nicht, aber ich würde ihn bevorzu­gen; bei Län­dern ist er meinem Gefühl nach überflüssig.

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    1. suz Beitragsautor

      @Lukas: wenn wir davon aus­ge­hen, dass der Artikel hier eben nicht einen Fakt beschreibt (‘Ich bin Deutsche’), son­dern ein Zuge­hörigkeits­ge­fühl (‘Ich bin ein Europäerin’), dann ist deine Ein­schätzung ja auch richtig. Das war übri­gens auch genau die Aus­sage viel­er Deutsch­er (inkl. Eich­hoff), dass Ich bin Berlin­er von John F. Kennedy eben nicht gesagt wer­den kon­nte, weil er nicht dort geboren ist oder son­st wie ‘fak­tisch’ mit der Stadt ver­bun­den ist.

      @Mella: Sog­ar dir als Anglist?! Ich bin über­rascht, wie wenig es bekan­nt ist. Aber dann wiederum bin ich gar nicht so überrascht.

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  4. Engywuck

    ich empfinde einen (winzig kleinen) Unter­schied zwis­chen “Ich bin Berliner/Franzose” und “ich bin *ein* Berliner/Franzose”

    Im ersteren Fall empfinde ich das eher als Aus­sage “nuja, ich wohne dort/habe den entsprechen­den Pass”. Im zweit­en Fall betone ich, dass ich Teil der Gruppe Berlin­er oder Fran­zosen bin, verbinde mich also eher mit dieser Gruppe. 

    Wie gesagt: nur sub­til­er Unter­schied, nichts welt­be­we­gen­des — und bei­des richtig.

    (/me ist im schwäbis­chen Sprachge­bi­et aufgewach­sen und kein Sprachwissenschaftler)

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    1. suz Beitragsautor

      @Engywuck: das ist auch genau der Grund, weshalb der “Lap­sus” im deutschsprachi­gen Raum nie The­ma war. Inter­es­san­ter finde ich, dass es sich beson­ders im angel­säch­sis­chen Raum so wack­er hält, das Gerücht. Aber das liegt ver­mut­lich in der Natur des Men­schen, weil uns die “Fehler” ander­er auf beson­dere Weise faszinieren, wir uns schä­men dür­fen oder ein­fach, weil’s zu gut ist, um falsch zu sein. Spare me the details and don’t get tech­ni­cal, Fak­ten stören.

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