Ich bin ein Sprachmythos

Von Anatol Stefanowitsch

Es wäre ja zu schön, wenn John F. Kennedy sich in sein­er viel zitierten und in der Wahrnehmung (west-)deutscher Medi­en his­torisch befremdlich über­höht­en „Ich-bin-ein-Berliner“-Rede tat­säch­lich als mit Marme­lade gefülltes Back­w­erk beze­ich­net hätte. Aber obwohl sich entsprechende Gerüchte vor allem in der englis­chsprachi­gen Welt hart­näck­ig hal­ten, hat er das nicht. Das durfte ich anlässlich des 50. Jahrestages sein­er Rede nicht nur der AFP erk­lären, son­dern das habe ich schon vor genau fünf Jahren – damals noch im Bre­mer Sprach­blog – aus­führlich disku­tiert. Und Susanne hat vor zweiein­halb Jahren beschrieben, wie und wo dieser Mythos ent­standen ist.

Für diejeni­gen, die sich nicht durch diese empfehlenswerten, aber alten, Blog­beiträge wühlen wollen: Der Mythos geht unge­fähr so. Kennedy hätte eigentlich sagen müssen Ich bin Berlin­er, da das soge­nan­nte Prädikat­snomen, also das Sub­stan­tiv, das dem Verb sein fol­gt, in dieser Art von Herkun­ft­szuschrei­bung keinen Artikel haben dürfe. Deshalb sei Kennedys Ich bin ein Berlin­er nicht als Herkun­ft­szuschrei­bung zu inter­pretieren, und Berlin­er könne sich hier nicht auf „Einwohner/in der Stadt Berlin“ beziehen. Die einzige Alter­na­tiv­in­ter­pre­ta­tion für Berlin­er sei „mit Marme­lade gefülltes rundlich-plattge­drück­tes Backwerk“.

Nun wäre, mit oder ohne Artikel, ohne­hin kein Berlin­er auf diese Inter­pre­ta­tion gekom­men, denn – man kann es nicht oft genug erk­lären – die betr­e­f­fend­en Back­waren wer­den in Berlin nicht als Berlin­er son­dern als Pfannkuchen beze­ich­net (das, was man ander­norts Pfannkuchen nen­nt, heißt in Berlin dann Eierkuchen). Aber die gram­ma­tis­che Grund­lage des Pfannkuchen­mythos ist ohne­hin falsch.

Zwar ist es richtig, dass die Zuge­hörigkeit zu all­ge­mein anerkan­nten Grup­pen von Men­schen – nicht nur bezüglich ihrer Herkun­ft, son­dern auch bezüglich ihrer Berufe, Hob­bies, Reli­gion, u.a. – nor­maler­weise durch einen Kop­u­lasatz ohne Artikel aus­ge­drückt wird: Ich bin __ Sprach­wis­senschaftler, ich bin __ Blog­ger, ich bin __ Bier­trinker, ich bin __ St.-Paulianer usw. In dem Satz Ich bin Berlin­er kann Berlin­er deshalb tat­säch­lich nur schw­er als „Pfannkuchen“ inter­pretiert wer­den (außer, wenn ein Pfannkuchen das sagt).

Das macht aber den Kop­u­lasatz mit Artikel wed­er ungram­ma­tisch, noch schränkt es die Inter­pre­ta­tion von Berlin­er auf „Pfannkuchen“ ein. Wir ver­wen­den diese Vari­ante über­all da, wo wir uns nicht ein­er all­ge­mein anerkan­nten Gruppe zuord­nen, son­dern uns (häu­fig sub­jek­tiv) gewisse Eigen­schaften zuschreiben wollen – z.B. ich bin ein Fein­schmeck­er, ich bin ein Wun­derkind, ich bin ein Rock­star, ich bin ein Schlit­zohr usw.

Das zeigt sich auch daran, dass durch Adjek­tive mod­i­fizierte Grup­pen­beze­ich­nun­gen typ­is­cher­weise die Vari­ante mit Artikel erfordern: Ich bin Berlin­er, aber ich bin ein net­ter Berlin­er, ich bin Bier­trinker, aber ich bin ein durstiger Bier­trinker, ich bin St.-Paulianer, aber ich bin ein ent­täuschter St.-Paulianer. Denn damit ordne ich mich nicht mehr vor­rangig ein­er Gruppe zu, son­dern beschreibe meine Eigen­schaften. Wenn eine Kom­bi­na­tion aus Adjek­tiv und Sub­stan­tiv eine all­ge­mein anerkan­nte Gruppe beze­ich­net, kann sie aber wieder ohne Artikel ste­hen. So kom­men Min­i­mal­paare wie Ich bin aus­geze­ich­neter Blog­ger (d.h., ein Blog­ger, der eine Ausze­ich­nung erhal­ten hat) und ich bin ein aus­geze­ich­neter Blog­ger (d.h., jemand, der aus­geze­ich­net bloggen kann) zus­tande (in meinem Fall stim­men, Sie haben es sich wahrschein­lich schon gedacht, bei­de Aussagen).

Nun wollte Kennedy ja aber eben nicht behaupten, dass er einen Wohn­sitz in Berlin habe oder dass er – ohne dass die Welt bis­lang davon wusste – eigentlich in Berlin zur Welt gekom­men sei. Genau das aber würde Ich bin Berlin­er bedeuten. Was er tat­säch­lich behaupten wollte, war, dass er eine (ver­meintlichen) Eigen­schaft der Berlin­er teilt – und damit meinte er nicht ihre Unfre­undlichkeit oder ihre Überzeu­gung, beson­ders Schlagfer­tig zu sein, son­dern ihre (ver­meintliche) Freiheitsliebe:

All free men, wher­ev­er they may live, are cit­i­zens of Berlin, and, there­fore, as a free man, I take pride in the words “Ich bin ein Berliner.”

Wenn man Kennedy kri­tisieren wollte, Anlässe gäbe es ja mehr als genug. Aber die Gram­matik und die Bedeu­tung seines (zumin­d­est in Deutsch­land) berühmtesten Satzes gehören nicht dazu.

5 Gedanken zu „Ich bin ein Sprachmythos

  1. Clara

    Ich habe mir ger­ade vorgestellt, Kennedy hätte gesagt “Ich bin Berlin­er.” — inter­es­san­ter­weise hört sich das für mich nicht so nach­drück­lich an wie “Ich bin ein Berlin­er.” Let­zteres impliziert für mich stärk­er, damit auch zu sagen “Ich in ein­er von euch (Berlin­ern).” Vielle­icht aber lediglich umgangssprach­liche Wahrnehmung.

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  2. Karoline

    Ich finde es zwar anstren­gend, aber gle­ichzeit­ig faszinierend, was für ein ver­bre­it­etes Phänomen diese längst wider­legte Leg­ende im englis­chsprachi­gen Raum ist. Der Wun­sch, dass die Geschichte wahr wäre, muss wirk­lich mächtig sein!

    Bei Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/Ich_bin_ein_Berliner) habe ich gele­sen, dass der Begriff “Berlin­er” für das Gebäck in den 60er Jahren sog­ar weit­ge­hend unbekan­nt gewe­sen sei — lei­der ste­ht das dort ohne Quel­lenangabe. Dass es ger­ade in Berlin nicht Berlin­er, son­dern Pfannkuchen heißt, ist ja in Deutsch­land — so jeden­falls mein Ein­druck — eines der bekan­nteren Beispiele für region­al­spez­i­fis­che Beze­ich­nun­gen, und so wis­sen wohl heute auch die meis­ten Leute aus Berlin, dass es ander­swo Berlin­er heißt, auch wenn sie das selb­st nicht sagen. Über die Ver­bre­itung dieses Wis­sens im Jahre 1961 wüsste ich jet­zt gerne mehr…

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  3. Piet

    Es ist doch ein beliebter Trick von Sprach­nör­glern, tat­säch­liche oder behauptete Gram­matik­fehler oder Anglizis­men zu kri­tisieren, indem sie abwegige “Missver­ständ­nisse” kon­stru­ieren, auf die kein vernün­ftiger Men­sch je kom­men würde.

    Als ob irgend ein Zuhör­er ern­sthaft auf die Idee gekom­men wäre: “Hop­pla, der ver­wen­det den unbes­timmten Artikel, der muss ein Süßge­bäck meinen.”

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  4. Pingback: Verlinken und andere schreiben lassen IV: Ich bin ein Pfannkuchen | I have recently become happy and I find it over-rated

  5. Andreas Schosser

    @Piet
    Es gibt da einen Witz, der in etwa so geht: “Why the hell did Kennedy say ‘I’m a donut’?”

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