Schlagwort-Archive: Wortbildung

Drive-By-Nörgelei

Von Anatol Stefanowitsch

Wie so oft war die Aktion Lebendi­ges Deutsch im ver­gan­genen Monat wieder abso­lut vorher­sag­bar. Gesucht waren Alter­na­tiv­en für das Dri­ve-In-Kino und den Dri­ve-In-Schnel­lim­biss. Ich hat­te das zugegeben­er­weise offen herum­liegende Wort Autoki­no und auf Nach­frage auch das weniger offen­sichtliche Autoim­biss vorgeschla­gen und die Aktioneure müssen einge­se­hen haben, dass diese Vorschläge nicht zu top­pen sind: Weit­er­lesen

Die Ich-hänge-Substantive-an-Wortgruppen-Technik: Phrasenkomposita

Von Kristin Kopf

Ich bere­ite ger­ade ein Refer­at vor. Es kön­nte das let­zte meines Studi­ums sein. Ist das nicht gruselig?

Das Refer­at ist für ein Exa­m­en­skol­lo­qui­um in der deskrip­tiv­en Sprach­wis­senschaft, und es geht um Kom­po­si­tion. Das ist, ganz ein­fach gesagt, wenn man zwei (oder mehr) Wörter zu einem neuen zusam­men­fügt. Wie zum Beispiel Sprache+Blog=Sprach­blog:

Sprachblog

Eine ganz skur­rile Unter­art der Kom­posi­ta sind die soge­nan­nten “Phrasenkom­posi­ta”. Das sind Zusam­menset­zun­gen, bei denen das Erst­glied nicht etwa ein Sub­stan­tiv oder ein Adjek­tiv ist, son­dern eine ganze Wort­gruppe (“Phrase”). Ein paar Beispiele:

Will sell ebber?

Von Kristin Kopf

Num­mer 2 in der Rei­he “Badis­che Wörter selt­samen Ursprungs”: ebber ‘jemand’.

[Nach­trag: Eben habe ich ein Ver­wen­dungs­beispiel in meinen Auf­nah­men gefun­den – es geht um erhal­tene Bur­gen im Mittelrheintal:

ja, äh, wuh­nd doo na no ebber drin? (ja, äh, wohnt da denn noch jemand drin?)

]

Mal wieder kein erkennbar­er Bezug zum hochdeutschen Wort – aber dafür ähnelt es einem anderen Dialek­t­wort auf­fäl­lig: ebbis ‘etwas’, unbe­tont auch oft ebbs. Bei­de Wörter sind soge­nan­nte “Indefinit­pronomen”, also Pronomen, die nicht näher Bes­timmtes bezeichnen.

2009-09-14-ebbis

Das dialek­tale ebbis ist his­torisch mit dem hochdeutschen etwas verwandt.

Das Grimm­sche Wörter­buch gibt althochdeutsch ëddeshuaʒ und mit­tel­hochdeutsch ët(e)swaʒ an, das schließlich zu unserem heuti­gen etwas wurde. Es ken­nt aber auch die For­men eppas, eppes, die es als von der “Volkssprache” assim­i­liert bezeichnet.

Das deutet darauf hin, dass das Wort nicht nur im Badis­chen auf­taucht – und siehe da: In zahlre­ichen Dialek­twörter­büch­ern find­et es sich, z.B. im Pfälzis­chen (ębəs, ębis, abəs), Rheinis­chen (ębəs, mit der weit­eren Bedeu­tung ‘sehr’), Elsäs­sis­chen (eppis) und Lothringis­chen (èpəs, èbs, èbəs). Im Lothringis­chen Wörter­buch ste­ht als Anmerkung dabei: Kommt in fast allen ober- und mit­teldeutschen Maa. [=Mundarten] vor”. Ost­mit­teldeutsche Wörter­büch­er gibt’s lei­der nicht online, Hin­weise dazu wer­den dankbarst aufgenommen!

2009-09-14-ebber

Jet­zt aber zu ebber! Das Wort ähnelt ebbis nicht umson­st, es geht näm­lich auf eine ähn­liche Grund­lage zurück:

  1. mhd. ëtes-was
  2. mhd. ëtes-wër

Im Mit­tel­hochdeutschen (und auch schon früher) wur­den die Indefinit­pronomen also regelmäßig gebildet, und zwar aus etes und dem entsprechen­den Frage­pronomen (was für Dinge, wer für Men­schen).

Außer­dem kon­nte etes auch vor -lîch (etlich), -(‘irgend­wo’), -war (‘irgend­wohin’), -wenne (‘manch­mal’) und -wie (‘irgend­wie’) ste­hen, immer mit der unbes­timmten Bedeu­tung. Lei­der bin ich grade fern von meinem ety­mol­o­gis­chen Wörter­buch, aber wenn wir wieder glück­lich vere­int sind, werde ich mal nach­schauen, ob für etes zu ein­er früheren Zeit eine konkretere Bedeu­tung belegt ist.

ebber ist also eine Vari­ante von etwer, das es im Neuhochdeutschen nicht mehr gibt. Statt dessen ver­wen­den wir jemand oder irgendw­er.

Wie ebbis ist auch ebber weit­er ver­bre­it­et: Im Pfälzis­chen (ębər, ębɒr), Elsäs­sis­chen (epper) und Lothringis­chen (èbər). Das Elsäs­sis­che ken­nt darüber hin­aus auch noch eppe ‘etwa’ und eppen(e) ‘irgend­wann, von Zeit zu Zeit’ (wahrschein­lich aus mhd. eteswenne).

Von tw zu bb

Wie kon­nte aber et-w… zu eb… wer­den? Die Grimms sprechen von ein­er Assim­i­la­tion, aber hier wird ja nicht t zu w oder w zu t, son­dern es verän­dern sich gle­ich bei­de Laute. Das ist eine soge­nan­nte “reziproke Assim­i­la­tion”, bei der sich die bei­den Laute gegen­seit­ig bee­in­flussen. Das neue [b] bein­hal­tet also Merk­male der bei­den vorheri­gen Laute (grün = Stimmhaftigkeit, blau = Artiku­la­tion­sort, orange = Artiku­la­tion­sart):

  • <t> ist ein stimm­los­er alve­o­lar­er Plo­siv [t]
  • <w>
    • war früher mal ein labi­al­isiert­er stimmhafter velar­er Approx­i­mant (=Hal­b­vokal) [w] – wie heute noch im Englischen –
    • und ist jet­zt ein stimmhafter labio­den­taler Frika­tiv [v]
  • <b> ist ein stimmhafter bil­abi­aler Plo­siv

Nun ist es etwas schwierig zu sagen, was genau wann passiert ist. Ist ebber ent­standen, als wir noch ein [w] hat­ten, oder erst, als es schon ein [v] war? Ich tippe auf ersteres. Dann hätte das [t] seinen Artiku­la­tion­sort ver­lagert, um dem [w] ent­ge­gen­zukom­men. Das [w] ist velar, das heißt der Zun­gen­rück­en ist bei der Bil­dung hin­ten am Gau­men, aber wichtiger ist hier, dass es labi­al­isiert ist. Das bedeutet, dass man bei der Bil­dung bei­de Lip­pen benutzt. Wenn man zur Bil­dung eines Plo­sivs, was das [t] ja ist, die Lip­pen ein­set­zt, dann wird er bil­abi­al und somit ein [b] oder [p]. Wir hät­ten also den Zwis­chen­schritt *ebwas.

In einem zweit­en Schritt hätte dann das [b] auf das [w] eingewirkt und es in sein­er Artiku­la­tion­sart verän­dert: Vom Hal­b­vokal zum Plo­siv. Et voilà, ebbas.1 Übri­gens: Heute schreibt man zwar noch <bb>, aber in Wirk­lichkeit ist es längst auf einen b-Laut zusam­mengeschrumpft. (Den Vor­gang nen­nt man “Degem­i­na­tion”.)

Das [a] wurde später oft abgeschwächt, sodass man dialek­tal meist ebbes hat. Woher das ale­man­nis­che [i] stammt, kann ich lei­der nicht schlüs­sig erk­lären. Das Ale­man­nis­che ist aber sehr i-phil, vielle­icht wurde die abgeschwächte Endung ein­fach als ehe­ma­liges [i] analysiert und dann wieder ver­stärkt. Das ist jet­zt aber reine Spekulation!

Einen ganz ähn­lichen Vor­gang kann man übri­gens zum Lateinis­chen hin beobacht­en: aus indoger­man­is­chem *dw wurde im Lateinis­chen b (z.B. *dwis ‘zweimal’ > bis). Im Deutschen hinge­gen haben wir das ursprüngliche *dw beibehal­ten, es wurde lediglich durch andere Laut­wan­del­prozesse verän­dert (indogerm. *dw > germ. tw (1. Lautver­schiebung) > ahd. zw (2. Lautverschiebung)).

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Flug-Hund, Meer-Katze, Fleder-Maus

Von Kristin Kopf

Habt Ihr schon mal drüber nachgedacht, dass viele Tiere nach Tieren benan­nt sind? Obwohl sie gar nicht miteinan­der ver­wandt sind? Also z.B. eine Meerkatze keine Katze ist?

Meis­tens ist der Tierbe­standteil ein Wort für ein schon lange domes­tiziertes Tier – ist ja logisch, dass man von Bekan­ntem aus­ge­ht, um Unbekan­ntes zu benen­nen. In mein­er Samm­lung beson­ders promi­nent1:

Das Schwein

  • Meer­schweinchen
  • Stachelschwein
Das Schwein

Foto: Kumana @ Wild Equines (cc-by‑2.0)

Das Pferd

  • Nilpferd, Flusspferd
  • Seepferd(chen)
  • Graspfer­d­chen, Heupferd
  • Wal­roß

Der Hund

  • See­hund
  • Flughund

Foto: gwyrah (cc-by‑2.0)

Foto: Nize (cc-by-sa‑2.0)

Die Katze

  • Meerkatze
  • Eichkatze, Eichkätzchen (Eich­hörnchen)
  • Seekatze (Fis­chart)

Der Bär

  • Ameisen­bär
  • Koal­abär, Beutelbär

Foto: Jean-noël Lafar­gue (Copy­left)

CC-

Foto: Christoph Neu­mueller (cc-by-sa‑3.0)

Der Igel

Und sonst noch so?

Woran liegt’s?

Die Gründe für solche Benen­nun­gen sind wahrschein­lich sehr vielfältig, jedes Wort hat seine eigene Etymologie.

Bei vie­len Beze­ich­nun­gen ist ganz klar, dass man niemals dachte, das Tier gehöre zu der Gat­tung, nach der es benan­nt ist (Heupferd, Meer­schweinchen, See­hase). Warum dann die Benen­nung? Der kog­ni­tive Prozess, der hier häu­fig mit­spielt, nen­nt sich “Meta­pher”. Ja, genau, das gibt es nicht nur in Gedicht­en. Ein Heupferd kön­nte zum Beispiel nach dem Pferd benan­nt sein, weil es eben­falls springt. Ein Wasser­floh kön­nte so heißen, weil er ähn­lich klein wie ein Floh ist. Eine Eichkatze kann so gut klet­tern wie eine Katze. Ein Seep­fer­d­chen sieht einem Pferdekopf ähn­lich.
Über­haupt ist die Gruppe der See-Irgend­wasse ziem­lich groß – vielle­icht weil man ver­suchte, das Seetier­re­ich ähn­lich dem Landtier­re­ich zu struk­turi­eren? (Natür­lich nicht bewusst. Und natür­lich ist das nur eine wilde Vermutung.)

Es gibt aber auch eine Gruppe von Wörtern, bei denen man das Tier YX wirk­lich als eine Art von X betra­chtete. Dazu gehören z.B. die Wal­fis­che, die man lange für eine Fis­chart hielt. (Natür­lich ent­standen die meis­ten Wörter, bevor unsere heutige Tax­onomie ent­stand, sie waren also nicht wirk­lich “Fehlbe­nen­nun­gen”.)

Und schließlich gibt es auch noch die beliebten Volk­se­t­y­molo­gien: Das Tier hieß ursprünglich ganz anders, das Wort ähnelte aber einem bekan­nten Tier und wurde so daran angeschlossen. So nimmt man an, dass Meerkatze auf altindisch marká­ta- ‘Affe’ zurück­zuführen ist. Schon im Althochdeutschen wurde es aber als mer(i)kaz­za bezeichnet.

Auch noch wichtig ist, dass viele dieser Wörter keine deutschen Bil­dun­gen sind, son­dern Über­set­zun­gen aus ein­er anderen Sprache. So stammt der See­hund aus dem Nieder­ländis­chen oder Niederdeutschen und das Flusspferd aus dem Griechischen.

Falls Ihr noch weit­ere Tiere ken­nt, die nach Tieren benan­nt sind … ich freue mich über Kom­mentare! Auch über Beispiele aus anderen Sprachen oder Hin­weise zur Herkun­ft der schon genan­nten Wörter.

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Welli? Selli! Rätsellösen mit der Mittelhochdeutschen Grammatik

Von Kristin Kopf

Nico, der Gewin­ner der Sch­plock-Jubiläumsver­losung 2009, hat sich nicht damit beg­nügt, ein Buch von mir geschickt zu bekom­men – nein, er hat mir auch post­wen­dend ein Buch zurück­geschickt. Jip­pie! Und zwar die Mit­tel­hochdeutsche Gram­matik von Paul/Mitzka in der 18. Auflage, die (und deren Nach­fol­gerin­nen) ich tat­säch­lich noch nicht besaß. Ich habe mich enorm gefreut und gle­ich ange­fan­gen, zu lesen. Bere­its auf Seite 27 habe ich dann etwas her­aus­ge­fun­den, was ich Euch auf keinen Fall voren­thal­ten will …

Im Ale­man­nis­chen gibt es die Wörter sell­er, sel­li, sell. Sie entsprechen unge­fähr dem hochdeutschen ‘jen­er, jene, jenes’/‘dieser, diese, dieses’/‘der, die, das’. Das sind Demon­stra­tivpronomen, aber zu dem The­ma schreibe ich mal geson­dert was. Jet­zt geht es nur darum, dass ich jahre­lang gerät­selt habe, woher die For­men kommen.

Hier ein Beispiel aus meinen Auf­nah­men für die Mag­is­ter­ar­beit – ich hat­te danach gefragt, welche Spiele es früher gab:

Un die Karde­schbi­ile, des häm­mer au gho. Des het mo gwän­lich vun de Vewonde irgend­wie mol gschengt griegt, waisch, un … ja. Sell häm­mer au gho. Un mer hänau fil gschbielt … 

[Und diese Karten­spiele, das haben wir auch gehabt. Das hat man gewöhn­lich von den Ver­wandten irgend­wie mal geschenkt gekriegt, weißt du, und … ja. Das haben wir auch gehabt. Und wir haben auch viel gespielt …]1

For­mal hat sell wed­er mit dies noch mit jenes etwas gemein, und son­st ist mir auch kein neuhochdeutsches Wort einge­fall­en, dem es entsprechen kön­nte. Ich habe immer mal wieder von Leuten den Vorschlag gehört, es kön­nte mit dem franzö­sis­chen cela ‘das’ oder celle, celui ‘die, der’ zu tun haben. Da ist aber nichts dran. Es gibt ein hochdeutsches Wort. Die Mit­tel­hochdeutsche Gram­matik hat mir auf die Sprünge geholfen:

Die neuhochdeutsche Entsprechung ist solch­er (solche, solch­es). Im Althochdeutschen lautete es noch soli­hêr oder sol­her2. Es gab aber die Ten­denz dazu, ein h in unbe­ton­ter Silbe nur noch ganz schwach und schließlich gar nicht mehr auszus­prechen. Das führte zur südale­man­nis­chen Form solêr.

Gle­ichzeit­ig machte auch das Wort welch­er in sein­er althochdeutschen Form uueli­hêr, uuel­her3 diese Entwick­lung mit und wurde zu wel­er. (Auch das gibt es noch heute als weller, welli, wells.)

Und schließlich nahm sich sol­er das wel­er zum Vor­bild und beseit­igte das o zugun­sten des e-Lautes. Das nen­nt man Analo­gie, das eine Wort benutzt das andere als Muster, um mehr Regelmäßigkeit in die For­men zu bringen.

Sell­er über­nahm schließlich im Ale­man­nis­chen die Funk­tions des Demon­stra­tivpronomens, in Auf­gaben­teilung mit den Artikeln. Die alten Demon­stra­tivpronomen dieser und jen­er find­en sich im Dialekt über­haupt nicht mehr. Und wenn man die ursprüngliche Bedeu­tung ‘solch­er’ aus­drück­en will, sagt man ein­fach so ein­er.

Heute Nacht werde ich ruhig schlafen können.

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Kaum zu glauben

Von Anatol Stefanowitsch

Gestern habe ich in meinem Beitrag zum Wort empfind­lich Fol­gen­des geschrieben:

wenn ein bes­timmter Verb­stamm (oder auch Sub­stan­tivs­tamm) nicht bere­its mit dem Suf­fix -lich in der Sprache existiert, kön­nen wir das entsprechende Wort nicht ein­fach erfind­en: vorstell-lich oder glaublich gibt es eben­sowenig wie esslich/verschlinglich oder spür­lich, obwohl wir die bedeu­tungsver­wandten Wörter unglaublich, köstlich und eben empfind­lich haben. Das Suf­fix -lich ist sprachgeschichtlich sehr alt und nicht länger produktiv.

Das war natür­lich eine sehr absolute Aus­sage über einen Phänomen­bere­ich, in dem es nichts Absolutes gibt. Weit­er­lesen

Sprachliche Empfindlichkeiten

Von Anatol Stefanowitsch

Let­zte Woche wies mich Sprach­blogleser „Jim“ per E‑Mail auf einen Beitrag im Blog der Berlin­er Recht­san­walt­skan­zlei Hoenig hin, in dem sich der Autor über die Logik des Wortes empfind­lich Gedanken macht. Ich zitiere den Beitrag hier in ganz­er Länge (da der Autor des Zitats Recht­san­walt ist, weise ich vor­sor­glich darauf hin, dass ich mich zur Recht­fer­ti­gung dieses Vol­lz­i­tates auf §51 des Urhe­berge­set­zes, ins­beson­dere auf Satz 2, Nr. 1 berufe):

Aus einem Haftbefehl:

Der Beschuldigte hat im Falle sein­er Verurteilung mit ein­er empfind­lichen Frei­heitsstrafe zu rech­nen, die nicht mehr zur Bewährung aus­ge­set­zt wer­den kann.

Das ist Quatsch. Sprach­lich jeden­falls. Denn nicht die Frei­heitsstrafe ist empfind­lich, son­dern allen­falls der Beschuldigte.

Jim stellt dazu fol­gende Über­legun­gen an: Weit­er­lesen

Fronleichnam frönt den Leichen

Von Kristin Kopf

Fron­le­ich­nam als (katholis­chen) Feiertag gibt es seit 1246 immer am zweit­en Don­ner­stag nach Pfin­g­sten. Das Fest ist auf keinen konkreten bib­lis­chen Anlass zurück­zuführen – gefeiert wird die kör­per­liche Gegen­wart Jesu in Hostie und Mess­wein bei der Wand­lung. (Stich­wort Transsub­stan­ti­a­tion)

Es han­delt sich mal wieder um einen Feiertag, dessen Ety­molo­gie im Reli­gion­sun­ter­richt alljährlich durchgekaut wurde – aber den fern vom katholis­chen Glauben Aufgewach­se­nen unter Euch kann ich vielle­icht noch was Neues erzählen. Dazu werde ich das Wort Fron­le­ich­nam ein­mal auseinandernehmen …

2009-06-11-fronleichnam2

Das ware noch Zeit­en, als zu Fron­le­ich­nam die Sonne schien …

Fronleichnam und Frondienst

Das Erst­glied Fron gibt es als eigen­ständi­ges Wort kaum noch. Wie das gle­ichbe­deu­tende Fron­di­enstzwangsweise Dien­stleis­tun­gen in Form von kör­per­lichen Arbeit­en für unter­schiedliche Herrschaft­strägerste­ht es zwar im Wörter­buch, wird aber viel sel­tener benutzt als let­zteres. Bei Google habe ich für Fron qua­si keine mod­er­nen Ver­wen­dun­gen gefun­den. Für Fron­di­enst schon:

Der Sam­stag sollte im Bedarfs­fall wieder Werk­tag ohne Zuschläge sein. Die Leute gehen doch eigentlich gern zur Arbeit, das ist doch kein Fron­di­enst”, sagte von Pier­er der “Bild”-Zeitung. (Man­ag­er Mag­a­zin)

Pri­vate Altersvor­sorge im Fron­di­enst für die öffentliche Hand (Yahoo Nachricht­en)

In der Schweiz wird Fron­di­enst ganz neu­tral benutzt, für ‘frei­williger Arbeitseinsatz’:

Jed­er geleis­tete Fron­di­enst-Halb­tag wird auf unserem Fron­di­enst-Ausweis ver­merkt. Für zehn Fron­di­enst-Halb­tage gibt es eine Gratis-Über­nach­tung in ein­er unser­er Club­hüt­ten für zwei Per­so­n­en. (Schweiz­erisch­er Alpin­club Sek­tion Blüm­lisalp)

Fron­di­enst durch Vere­ins­mit­glieder und weit­ere Inter­essierte ist ein­er der Stützpfeil­er des Typo­ra­mas. (Typo­ra­ma)

Was war aber die ursprüngliche, wörtliche Bedeutung?

Die Basis bildet das althochdeutsche frō ‘Herr’1, beziehungsweise dessen Gen­i­tiv Plur­al, frōno ‘der Herren/der Göt­ter’. Diese Gen­i­tiv­form kon­nte auch als Adjek­tiv gebraucht wer­den und hieß dann ‘rechtlich, gerichtlich, öffentlich’ (bezo­gen auf den weltlichen Her­ren und seinen Macht­bere­ich) oder ‘göt­tlich’.

Die weltliche Bedeu­tung führte zu Wörtern wie Fron­bote ‘Gerichts­bote’ und Fron­di­enst ‘Her­ren­di­enst’ (daraus verkürzt dann Fron). Auch das deutsche Wort frö­nen ist mit Fron eng ver­wandt (es hieß ursprünglich ‘dienen, unter­wor­fen sein’).

Die religiöse Bedeu­tung bescherte uns Fron­le­ich­nam.

2009-06-11-fronleichnam

Herzlichen Fronleichnam!

Also heißt Fron­le­ich­nam ‘göt­tlich­er Leichnam/Leichnam des Her­ren’? Nein, das ist noch nicht die ganze Wahrheit. Das Zweit­glied hat­te früher ein­mal eine andere Bedeu­tung: Im Alt- und Mit­tel­hochdeutschen gab es das Wort līch ‘Kör­p­er, Fleisch, Leiche’, und von ihm abgeleit­et die Form līch-hinamo ‘Kör­p­er’. Das hinamo kommt vom west­ger­man­is­chen hamōn ‘Hülle, Klei­dung, Leib’. Die Verbindung der bei­den Wörter war wahrschein­lich ursprünglich poet­isch und hieß so etwas wie ‘Hülle des Fleis­ches’ oder ‘Gefäß des Lebens’ und somit let­ztlich ‘Kör­p­er’.

Das Wort Kör­p­er gibt es erst seit dem Mit­tel­hochdeutschen (denn es hat ja ein p!). Es war eine Entlehnung des lateinis­chen cor­pus und ver­drängte das bis dahin übliche līch. Erhal­ten hat es sich dann nur in der früheren Nebenbe­deu­tung ‘tot­er Kör­p­er, Leiche’.

Fron­le­ich­nam heißt somit ‘Körper/Leib des Her­ren’ und ist eine Teilüber­set­zung der lateinis­chen Fes­t­beze­ich­nung cor­pus christi ‘Körper/Leib Christi’. Der Bezug zum Gefeierten wird sofort klar: Es geht ja um die kör­per­liche Präsenz in der Eucharistie.

Ende gut, alles gut? Ja, aber eines muss ich doch noch schnell loswer­den: Das alte Wort līch ‘Kör­p­er, Fleisch, Leiche’ hat noch eine andere Entwick­lung mit­gemacht. Es kon­nte an ein anderes Wort (x) ange­hängt wer­den, das dann die Bedeu­tung ‘ein­er, dessen Körper/Gestalt x ist’ bekam. Nach und nach wurde -līch dann zu ein­er reinen Adjek­tiven­dung, ‘etwas, das in der Art von x ist’: fröh-lich, fre­und-lich, herz-lich, … Dabei ver­lor es auch sein langes ī und ist heute nur noch ein kurzes -lich. Durch das i in der Endung gab es, wo möglich, Umlaut: gründ-lich, höf-lich, schwärz-lich.

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[Lesetipp] Mein Name ist Hasentochter

Von Kristin Kopf

Bei der FAZ gab’s am Dien­stag einen schö­nen Artikel zu Namenge­bung in Island: Egils Töchter und Hel­gas Sohn.

In Island trägt man näm­lich nor­maler­weise keinen Fam­i­li­en­na­men, son­dern einen Vaters- oder Mut­ter­sna­men. An den Vor­na­men eines Eltern­teils (früher war es immer der Name des Vaters, mit­tler­weile ist auch der der Mut­ter möglich) wird ein­fach -dót­tir ‘-tochter’ bzw. -son ‘-sohn’ ange­hängt. Einen solchen Namen beze­ich­net man als “Beina­men”.

Zur all­ge­meinen Ver­wirrung habe ich ein Schema gebastelt, das die möglichen Kom­bi­na­tio­nen darstellt. Oben die Eltern (der Über­sichtlichkeit hal­ber ohne Beina­men), unten die Kinder (Hel­ga und Rag­nar sind ihre Ruf­na­men). Die Pfeile von den Vor­na­men der Kinder aus zeigen an, dass das Zweit­glied des Beina­mens durch das Geschlecht bes­timmt wird (was ja eigentlich logisch ist):

2009-05-isl

Im Tele­fon­buch sind die Islän­der unter ihren Vor­na­men zu find­en. Möglich ist das natür­lich nur, weil Island so über­schaubar ist – Fam­i­li­en­na­men ent­standen näm­lich in den meis­ten Län­dern als Reak­tion auf die wach­senden Bevölkerungszahlen.

Der Artikel erk­lärt auch, was passiert, wenn Aus­län­der Islän­der wer­den wollen, warum manche Islän­der doch einen Fam­i­li­en­na­men haben und was es mit den “Mit­tel­na­men” auf sich hat. Lesenswert!

Ein Rohling muss kein Wüstling sein

Von Kristin Kopf

Das ver­sproch­ene zweite Com­put­er­wort − dies­mal viel alltäglich­er: Rohling. Eine unbeschriebene CD oder DVD. Ich kenne das Wort schon ewig und habe noch nie darüber nachgedacht, aber kür­zlich war mir med­i­ta­tiv zumute:

Rohling ist eine Wort­bil­dung auf -ling wie Abkömm­ling, Erstling, Son­der­ling, Gün­stling, Däum­ling, Schädling, Flüchtling

Wen mögen die Linge?

Das Suf­fix -ling sorgt dafür, dass das Wort, an das es ange­hängt wird, ein Sub­stan­tiv wird. Dabei ist die Aus­gangs­ba­sis ziem­lich egal, das -ling gibt es bei vie­len Wortarten:

Sub­stan­tiv Hof Höfling
Adjek­tiv schwach Schwäch­ling
Verb saugen Säugling

(Wie man sieht, gibt es in der Regel Umlaut, wegen dem [i] in -ling.)

Wirklich jeden?

Jein. Sub­stan­tivierun­gen mit -ling gibt es zwar zu ver­schiede­nen Wor­tarten, aber ganz wichtig für die Zunei­gung der Linge ist natür­lich, welche Wor­tarten sie heute noch mögen. Neu­bil­dun­gen nach dem Muster von Häuptling oder Lehrling gibt es heute qua­si nicht mehr1, die Schwäch­linge hinge­gen blühen auf: Das Suf­fix kann mit­tler­weile (fast) nur noch an Adjek­tive treten. Der Duden-Newslet­ter gibt z.B. Naivling und Prim­i­tivling als Neuschöp­fun­gen an.

Und wer sind sie überhaupt?

Die Linge sind viel­seit­ig. Es gab sie schon im Althochdeutschen und sie bilde­ten damals laut Kluge “Zuge­hörigkeitssub­stan­tive”. Der Häftling gehört also in die Haft, der Hän­fling in den Hanf, der Fremdling in die Fremde und der Fäustling an die Faust. Jagut. Sehr allgemein.

Die Bil­dun­gen gehen auf ein -ing zurück, z.B. in edil+ing, lant­sidil+ing ‘Land­sasse’. Das l im Aus­laut solch­er Wörter wurde dann als Teil der Endung reanalysiert, -ing wurde zu -ling.

Die ent­stande­nen Sub­stan­tive sind größ­ten­teils Men­schen (Sprössling, Liebling, Fremdling, Ein­drin­gling, Zögling), es sind aber auch Tiere dabei (Schmetter­ling, Frischling, Nestling, Sper­ling), gele­gentlich Pflanzen (Pfif­fer­ling < mhd. pfef­fer­linc zu Pfef­fer, Schößling, Schier­ling < ahd. sker­il­ing zu *skar­na- ‘Mist’) und sog­ar Dinge (Schilling, Fäustling) und Abstrak­ta (Früh­ling).

Linge sind doof!

Die heute noch pro­duk­tiv­en Sub­stan­tive auf -ling sind i.d.R. abw­er­tende Per­so­n­en­beze­ich­nun­gen (fast auss­chließlich für Män­ner ver­wend­bar), meis­tens sucht man sich für sie auch gle­ich neg­a­tive Basen aus, wie Aggres­sivling, Auf­drin­gling, …

Diese neg­a­tive Wer­tung ist sehr stark, es gibt keine pos­i­tiv­en neuen Linge. Das böse Vorurteil wird aber natür­lich nicht von allen älteren Bil­dun­gen geteilt, die Beze­ich­nun­gen für Nicht-Men­schen sind neu­tral, die für Men­schen kön­nen neg­a­tiv sein, müssen es aber nicht. (Ein net­ter Dia­log zum The­ma.) Vielle­icht ist die abw­er­tende Bedeu­tung über den Zwis­chen­schritt der Verkleinerung ent­standen (wie bei Säugling oder auch den Tier­jun­gen – Frischling – oder kleinen Tieren – Sper­ling, Bläul­ing). Wein­rich et al. (2003) sind der Mei­n­ung, dass die neg­a­tive Bedeu­tung zunächst nur im neg­a­tiv­en Adjek­tiv steck­te und von dort aus qua­si auf die Endung überg­ing, die sich dann auch an neu­trale Wörter hän­gen kon­nte, um sie schlecht zu machen: Schreiber­ling. Lei­der erschöpfen sich meine kur­sorischen Nach­forschun­gen aus Zeit­grün­den hier.

Ist ein Rohling brutal?

Jet­zt aber endlich zur unbeschriebe­nen CD! Das Wort Rohling gab es schon lange vor den CDs in Nicht-Com­put­erbe­deu­tung, und zwar gle­ich doppelt:

  1. ein bru­taler Mensch
  2. Guß- oder Schmiede­teil, der zum Werk­stück weit­er­ver­ar­beit­et wird.” (aus: Das neue Taschen­lexikon in 20 Bän­den, 1992)

Hier ist schön zu erken­nen, dass das Wort ein­mal neg­a­tiv ist (wenn es einen Men­schen beze­ich­net) und ein­mal neu­tral (bei einem Ding).

Ob die bei­den Bedeu­tun­gen auf eine Ursprungs­form zurück­ge­hen (d.h. von einem Objekt auf einen Men­schen über­tra­gen), kon­nte ich nicht her­aus­find­en, sie kön­nen dur­chaus unab­hängig voneinan­der gebildet wor­den sein. Grimms Wörter­buch ken­nt nur den groben Men­schen (und gle­ich­namige Pilze und Frösche), was aber wegen der tech­nis­cheren Beze­ich­nung des Met­all­teils nicht viel heißen muss:

RÖHLING, m., auch rohling, homo rud­is, gebildet wie frischling, neul­ing. bei MAALER der ihm eige­nen form rouw entsprechend röuwl­ing (der) ferus (vgl. roh I): die witwe merk­te wohl, wo es den rohling drück­te. KLINGER 6, 215;

Trotz Unergiebigkeit der Lit­er­atur (Das Taschen­lexikon ken­nt ihn noch nicht, Wikipedia ist ungewöhn­lich kurz ange­bun­den und Kluge gibt erst recht nichts her) wage ich es zu behaupten, dass der CD-Rohling wohl von der zweit­en Bedeu­tung herkommt. Eben­so wie das Met­all­teil ist die unbeschriebene CD für unsere Zwecke “form­bar” und erhält erst so ihre Bedeu­tung. Erscheint mir sehr plau­si­bel. Auch wenn die gewalt­tätige Erk­lärung irgend­wie schön­er wäre.

Welche Linge ken­nt Ihr?

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